Interessenpolitik
15. Mai 2003Terroristische Gewalt überschattete den Besuch des amerikanischen Außenministers Colin Powell am Mittwoch (14.5.03) in Moskau. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen rissen in Tschetschenien Selbstmordattentäter viele Menschen mit in den Tod. Angesichts des verheerenden Bombenanschlags, der erst vor zwei Tagen eine von Ausländern bewohnte Anlage im saudischen Riad zerstörte und viele Bewohner tötete, versicherten sich USA und Russland ihrer Solidarität im Kampf gegen den globalen Terrorismus, so auch Powell bei seiner Moskau-Visite. Das gemeinsame Auftreten gegen einen gemeinsamen Feind erlaubt es beiden Ländern, Russland und USA, ihre jeweils eigene nationale Interessenpolitik zu betreiben, und zwar
rücksichtslos, nämlich auf Kosten der tschetschenischen Bevölkerung.
Ein kleiner Sieg für den russischen Präsidenten Wladimir Putin: Der amerikanische Außenminister Colin Powell beschwört bei seinem Moskau-Besuch den gemeinsamen Kampf gegen den Terror, sei es nun in der arabischen Welt oder in Tschetschenien. Amerika übernimmt damit den russischen Sprachgebrauch und damit die Gleichsetzung des
Krieges im Kaukasus mit dem Kampf gegen Bin Laden. Jetzt sind es nur noch einige europäische Regierungen und vielleicht auch noch ein paar Nicht-Regierungsorganisationen, die differenzieren und etwa der russischen Soldateska eine Mitschuld für den blutigen Bürgerkrieg in Tschetschenien geben.
Aber auch Powell hat ein Interesse an der Gleichsetzung von
tschetschenischen und arabischen Terroristen. Das hat mit dem Anschlag in Riad zu tun. Die amerikanische Regierung muss sich unangenehme Fragen stellen lassen: Warum haben sich die Anschläge in Saudi-Arabien nicht verhindern lassen, zumal es zuvor geheimdienstliche Hinweise gegeben hatte? Wie soll der Kampf gegen die Terroristen fortgesetzt werden? Kann er überhaupt gewonnen werden?
Powells Botschaft für das amerikanische Fernsehpublikum lautet: Schaut her, auch die Russen müssen bei ihrem Kampf gegen die tschetschenischen Terroristen mit Rückschlägen kämpfen. Damit versucht er das Desaster von Riad zu relativieren. Letztlich scheint Powell der Kriegsverlauf in Tschetschenien kaum zu interessieren. Echter Krieg oder falscher Friede im Kaukasus - Washington ist beides einerlei geworden.
Einigkeit darüber, wie es im Irak weitergehen soll, kann Powell in Moskau nur dann erzielen, wenn er bereit ist, den entsprechenden Preis zu zahlen. Zum einen sind da die finanziellen Ansprüche Moskaus gegenüber dem Irak. Der Kreml pocht auf die Begleichung der Schulden Bagdads gegenüber Moskau. Gleichzeitig will Moskau nicht auf milliardenschwere Aufträge an die russische Erdölindustrie
verzichten.
Zum anderen hat Moskau kein Interesse an einer weiteren Schwächung der UNO durch die USA. Der ständige Sitz Russlands in der UNO und das damit verbundene Veto-Recht bei Beschlüssen der Vereinten Nationen ist ein Überbleibsel des Supermacht-Status, den einst die UdSSR innehatte und den Russland als Nachfolgestaat 1991 erbte.
Wer - wie die USA - die UNO schwächt, untergräbt damit auch die Einflussmöglichkeiten Moskaus auf internationalem Parkett. Präsident Putin wird alles tun, um die UNO zu stärken. Nur deshalb besteht der Kreml darauf, dass die Vereinten Nationen eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau des Iraks spielen.
Im Klartext: Es geht Putin weniger um den Irak als um Russland. Das ist - auch wenn es zynisch klingen mag - legitim.
Moskau und Washington sind an einer Annäherung beider Seiten interessiert. Anfang Juni 2003 findet der nächste G-8-Gipfel statt. Die Präsidenten Bush und Putin wünschen sich vor allem aus innenpolitischen Gründen ein Treffen ohne Zwist oder gar Streit. Solches Harmoniebedürnis hat seinen Preis: So dürften etwa die Interessen tschetschenischen Flüchtlinge auf der Strecke bleiben. Ihr Recht auf Rückkehr aus den Lagern in Inguschetien in die Heimat entpuppt sich einmal mehr als Sonntagslyrik.