Insel Graciosa will weg vom CO2-Verbrauch
15. Juli 2013Kein Meeresrauschen, sondern ein monotones Brummen empfängt Besucher an dem Ort, an dem mitten in Berlin eine Insel nachgebaut wurde. Statt weißgetünchter Häuser und idyllischer Strandpromenaden haben die Entwickler vom Berliner Start-up Younicos Stromkabel, Schaltschränke und überdimensionale Batterien aufgebaut. In einer grauen Werkshalle simulieren sie damit im Maßstab eins zu drei, wie die komplette Stromversorgung der portugiesischen Atlantik-Insel Graciosa in Zukunft aussehen könnte.
"Hier können wir die Umstellung von Inseln auf erneuerbare Energien simulieren", sagt Philip Hiersemenzel von Younicos. Das 2008 gegründete Ökoenergieversorgungs-Unternehmen will im weltweit ersten Pilotversuch dieser Art beweisen, dass eine 5000-Einwohner-Insel wie Graciosa sich mitten im Atlantischen Ozean nahezu vollständig mit der Energie von Windrädern und Solaranlagen versorgen kann.
Stabiles Netz: Schwer mit Ökostrom
Ein Vorhaben, für das die Entwickler rund um Philip Hiersemenzel allerlei Technik im Einsatz haben. In der linken Hallenhälfte stehen zehn Reihen eines funktionstüchtigen Mittelspannungsnetzes, auf der rechten Seite reiht sich eine Riesen-Batterie an die nächste. Zusammen soll so jenes Energiesystem aussehen, das in Graciosa bereits 2014 die Stromversorgung durch einen alten Dieselgenerator ablöst. Eine Zukunftsvision, die heute noch wie eine Fiktion erscheint. Denn bislang sind die Bewohner von Graciosa sehr wohl abhängig vom Öl: Einmal pro Woche kommt hier der Öltanker an, der den Nachschub für den Dieselgenerator des lokalen Stromversorgers bringt.
"Unser bisheriges Energiesystem ist wie ein Orchester mit einem Dirigenten", erklärt Hiersemenzel. Die Dirigenten in den Stromnetzen von heute seien die fossilen Kraftwerke, erklärt er. Auf Graciosa übernimmt diese Aufgabe bislang ein Dieselgenerator, durch dessen konstante Drehbewegung von 50 Mal in der Sekunde das Stromnetz mit einer Frequenz von 50 Hertz stabil gehalten wird. Wer es allerdings ernst meine mit dem Umstieg von fossilen Energieträgern auf Wind- und Sonnenkraft, sagt Hiersemenzel, der müsse einen Weg finden, wie diese Netzstabilisierung durch andere, nicht mit Diesel betriebene Energiequellen ersetzt werden könne. "Wenn ich auf 100 Prozent Erneuerbare kommen will, dann muss ich in der Lage sein, den Dieselgenerator abzuschalten."
Riesige Batterien sollen das Netz stabilisieren
Auf Graciosa soll genau das geschafft werden: Damit der Anteil von Windstrom von heute rund 15 Prozent auf der Insel schrittweise auf über 70 Prozent steigen kann, sollen zwei riesige Batterien die Aufgabe des Dieselgenerators bei der Netzstabilisierung übernehmen. Die Batterien werden Schwankungen abpuffern, die durch das wechselhafte Angebot von Wind- und Sonnenstrom unweigerlich entstehen können. "Graciosa wird also wie ein Jazzorchester sein, wo sich alles von alleine aufeinander einschwingt", erklärt Hiersemenzel. "Das Wichtigste in jedem geschlossenen Stromnetz ist, dass die Stromnachfrage immer genauso hoch sein muss wie das Stromangebot." Batterien komme dabei eine Schlüsselrolle zu, weil sie innerhalb von Millisekunden für einen Ausgleich sorgen können. "Teilweise werden die Batterien auch überflüssigen Strom wegnehmen und so dem Angebot anpassen."
Vor Philip Hiersemenzel bauen sich in der Mitte der Werkshalle zwei riesige Batterieblöcke auf, jeder so hoch wie ein afrikanischer Elefant. Über 27 verschiedene Batterietechnologien haben die Berliner Entwickler ausprobiert. Entschieden haben sie sich schließlich für eine Mischform: Hybrid-Batterien, die teilweise aus Lithium-Ionen, teilweise aus Natrium-Schwefel-Akkus bestehen. Die müssen einspringen, wenn über Solarparks plötzlich Wolken ziehen oder wenn von einer Sekunde auf die nächste der Stromverbrauch rasant ansteigt.
Graciosa als Modell für alle Inseln weltweit
Neben den Riesen-Batterien sollen zudem ein neuer Windpark und eine große Solaranlage auf Graciosa entstehen. Alles vernetzt durch Software, die dafür sorgt, dass sich alle Bauteile des dezentralen Stromnetzes absprechen. Für die Entwickler ist die Azoren-Insel der Testfall. Im Fokus: Inselgruppen, sogenannte Archipele, mit bis zu 10.000 Einwohnern, die weder per Unterseekabel noch durch eine Landzunge ans Stromnetz angeschlossen sind, sagt Björn Lang, Projektplaner bei Younicos. "Es ist tatsächlich so, dass man dort so hohe Energiekosten hat aufgrund des Transports und der relativ ineffizienten Strukturen, dass man mit einem System auf der Basis der erneuerbaren Energien Strom schon heute günstiger erzeugen kann."
Vertreter des Energieversorgers der Azoren und der portugiesischen Stromregulierungsbehörde wollten genau das wissen. Bei einem Probelauf in Berlin schauten sie sich das mögliche neue Inselstromnetz an, das immerhin stolze 15 Millionen Euro kosten würde. "Das Hauptproblem - wie immer mit erneuerbaren Energien - ist die Finanzierung", sagte Hiersemenzel. "Wer kauft sich schon seinen Diesel 20 Jahre im Vorhinein." Zwar verspreche das Ökostrom-Projekt über einen Zeitraum von 20 Jahren hinaus gesehen deutliche Kostenvorteile, aber natürlich müsse es gleich finanziert werden. "Und deswegen ist immer der große Knackpunkt: die Finanzierung."
Inselstromversorgung als Finanzanlage?
Noch gibt es keine endgültigen Zusagen. Dennoch ist Hiersemenzel sicher, dass Ökostrom-Selbstversorgung auf Inseln vor allem für externe Investoren lohnend sein könnte. So soll dadurch ein Gewinn erzielt werden, dass teurer Diesel-Kraftstoff für die Stromproduktion nicht eingekauft werden müsse. "Dieser Gewinn wird einerseits geteilt zwischen dem lokalen Energieversorger und andererseits den externen Investoren, die zwischen zehn und 20 Prozent Rendite machen könnten", verspricht Hiersemenzel. Ob diese Rechnung aufgeht wird letztlich entscheiden, wie lange nicht nur auf der Insel Graciosa tatsächlich noch Öltanker anlanden müssen.