"Vergeben ist manchmal unmöglich"
24. September 2016Sie wurde von kolumbianischen Guerilla-Kämpfern entführt und sechs Jahre lang als Geisel im Dschungel festgehalten. Seit ihrer Befreiung im Juli 2008 setzt sich Ingrid Betancourt für ein Ende des Bürgerkriegs in ihrer Heimat ein, der mehr als 200.000 Menschen das Leben gekostet und sechs Millionen Kolumbianer zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht hat. Vor der Unterzeichnung des Friedensvertrages zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-Rebellen am 26. September sprach die 54-jährige ehemalige Präsidentschaftskandidatin mit der DW über die Suche nach Frieden und Versöhnung in ihrer Heimat.
Deutsche Welle: Was war Ihr erster Gedanke, als Sie 2012 vom Beginn der Friedensverhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-Rebellen erfuhren?
Ingrid Betancourt: Ich war nicht wirklich überrascht. Ich hatte schon von dem Beginn der Friedensverhandlungen gehört, aber als es dann wirklich so weit war, war ich überwältigt. Ich erinnere mich daran, dass ich in Paris zur Basilika Sacré-Coeur gegangen bin, um Danke zu sagen. Ich war beeindruckt, wie viele Kolumbianer genau dasselbe getan haben. Wir haben mehrere Stunden gefeiert, uns umarmt und vor Freude geweint.
Was hat Ihnen geholfen, die Qualen der Geiselhaft durchzustehen?
Die größte Stütze für mich war die Stimme meiner Mutter im Radio. Sie gab mir das Gefühl, ein Mensch zu sein, der geliebt wird. Auch mein Glauben half mir, im Dschungel zu überleben und zu verstehen, was passierte. Am Anfang habe ich mich immer wieder gefragt: Warum trifft es ausgerechnet mich? Irgendwann hat sich das dann geändert, und ich habe gefragt: Wie kann ich das Beste aus dieser Situation machen? Wie kann ich ein besserer Mensch werden? Welche Lektion soll ich daraus lernen? Ohne meinen katholischen Glauben wäre dies nicht möglich gewesen. Ohne den Glauben an Gott ist es schwer zu akzeptieren, dass es für alles eine Erklärung gibt, auch wenn man sie zunächst nicht versteht. Es besteht die Gefahr, dass Rachgefühle und Bitterkeit überhand nehmen.
Haben Sie während all der Jahre im Dschungel nicht doch einmal die Hoffnung verloren und gedacht: Hier komme ich nie mehr raus?
Ich erinnere mich daran, dass die Wachposten mir sagten: 'Erst wenn Du Großmutter bist, kommst Du frei'. Das hat mich sehr gequält. Ich habe nachgerechnet, was das bei dem Alter meiner Kinder bedeuten würde (Anm. d. Red.: Als Betancourt 2002 entführt wurde, war ihre Tochter Melanie 17 Jahre und der Sohn Lorenzo 14 Jahre alt). Ich war mir immer sicher, dass ich eines Tages nach Hause zurückkehren würde. Manchmal bedeutete 'nach Hause zurückkehren' aber schlicht Sterben, denn das war die einzige Möglichkeit der Kontrolle der Guerilla zu entkommen und somit eine Art Befreiung. Als ich im Juli 2008 dann befreit wurde, überschlugen sich die Gefühle, denn es kam völlig überraschend.
Glauben Sie, dass in dem Friedensvertrag das Leiden der Opfer ausreichend berücksichtigt ist?
Was ist ausreichend? Nichts ist ausreichend. Was könnte in meinem Fall Gerechtigkeit bedeuten? Nichts! Die Menschen, die ich vermisse, kommen nicht wieder. Mein Vater ist während der Geiselhaft verstorben. Und die Zeit ohne meine Kinder bekomme ich ebenfalls niemals zurück. Das ist nicht die richtige Frage.
Was wäre denn dann die richtige Frage?
Die Frage, die gestellt und beantwortet werden muss, lautet: Warum haben wir vier Jahre lang Friedensverhandlungen geführt? Wir machen das, damit kein Kolumbianer durchmachen muss, was wir durchgemacht haben. Und diese Antwort ist richtig, denn damit retten wir Menschenleben und Familien und vermeiden Traumata. Kolumbien hat die Chance, sich in ein friedliches Land zu verwandeln. In meiner Generation haben wir niemals erlebt, was Frieden bedeutet. Meine Beziehung zu Kolumbien ist ausschließlich von Leid bestimmt. Ich hoffe, dass meine Kinder und Enkelkinder eine positivere Beziehung zu ihrer Heimat entwickeln können.
Das kolumbianische Volk wird am 2. Oktober über den Friedensvertrag per Volksentscheid abstimmen. Warum ist das notwendig?
Auf den ersten Blick erscheint es merkwürdig, ja absurd, dass ein Land, das so lange unter Krieg und Gewalt gelitten hat, darüber debattiert, ob es Frieden will oder nicht. Aber in Kolumbien dient der Krieg einem Teil der Gesellschaft als Einkommensquelle. Die Kriegsökonomie hat viele Menschen reich gemacht, Der Krieg hat vielen politischen Führern große Machtfülle verliehen und die Korruption wird vom Krieg alimentiert. Wer am 2.Oktober 'nein' ankreuzt, kann natürlich nicht sagen, wir wollen, dass der Krieg weitergeht, damit wir Geld verdienen. Sie müssen sich andere Argumente einfallen lassen, und genau darum geht es bei der Abstimmung.
Der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos war bisher als Hardliner bekannt, der die FARC mit militärischen Mitteln besiegen wollte. Nun wird er mit der Guerilla einen Friedensvertrag unterzeichnen. Was hat zu seinem Sinneswandel geführt?
Es stimmt, Santos war ein Hardliner. Aber er ist auch eine politische Führungspersönlichkeit mit historischem Weitblick. Er hat verstanden, dass nach dem Tod der alten FARC-Chefs Manuel Marulanda, Raúl Reyes und Alfonso Cano die jungen Nachfolger nicht über dieselben militärischen Fähigkeiten verfügten. Sie waren deshalb offener für eine politische Lösung. Diese Gelegenheit hat er für den Begin von Friedensverhandlungen genutzt.
Kennen Sie Präsident Santos?
Ja, sogar sehr gut!
Haben Sie ihn davon überzeugt, seine Meinung zu ändern?
Nein! Er war überzeugt, dass Friedensverhandlungen der richtige Weg sind. Ich kann ihm nur gratulieren, denn es gibt so viele Kräfte, die an einer endlosen Fortsetzung des Krieges interessiert sind. Wenn sein Plan aufgeht, wird er in die Geschichte Kolumbiens eingehen.
Die meisten Opfer sind für Versöhnung, genau wie Sie. Können Sie für sie sprechen?
Versöhnung und Vergebung ist etwas sehr persönliches und intimes. Man kann darüber nicht im Namen anderer sprechen, denn Vergebung umfasst persönliche Wünsche, Reflektionen und Gefühle. Und wer hat schon seine Gefühle unter Kontrolle? Ich kämpfe immer noch mit meinen. Ich selbst habe mich entschlossen, meinen Peinigern zu vergeben, doch ich kann nur zu gut nachvollziehen, dass es andere Opfer gibt, die dazu nicht fähig sind. Es kommt ganz darauf an, welches Leid einem zugefügt wurde und wie man damit umgeht. Vergeben ist manchmal unmöglich.
Haben die ehemaligen FARC-Kämpfer eine echte Chance, sich in die kolumbianische Gesellschaft zu integrieren? Oder werden sie bei den Drogenkartellen anheuern?
Die Integration ist die größte Herausforderung für die kolumbianische Gesellschaft. Schafft sie es, die ehemaligen Kämpfer, die ihre Waffen abgeben, aufzunehmen? Die ehemaligen Kämpfer brauchen eine legale Arbeit, um überleben und sich aus Armut und Elend befreien zu können. Einen ähnlichen Prozess haben wir schon einmal bei der Demobilisierung der paramilitärischen Verbände erlebt. Diese endete allerdings in einer Art Fiasko, denn einige Anführer wurden ausgeliefert und verbrachten im Ausland wesentlich weniger Zeit im Gefängnis als ihnen in Kolumbien bevorgestanden hätte. Und schlimmer noch: Viele von ihnen haben einfach das Etikett ausgetauscht und sich in kriminelle Organisationen verwandelt. Ihre Präsenz bedroht nicht nur die öffentliche Sicherheit in Kolumbien, sondern auch in anderen lateinamerikanischen Ländern wie Brasilien und Mexiko.
Politik hat ihr Leben bestimmt. Denken Sie daran, erneut als Präsidentschaftskandidatin anzutreten?
(Lacht) Nein, auf keinen Fall! Ich will mich weder für die Präsidentschaftswahlen 2018 noch für ein Mandat im Parlament bewerben.
Gibt es wirklich keinen Plan, in die kolumbianische Politik zurückzukehren? Auch nicht, wenn Präsident Santos sie fragen würde, ob Sie am Friedensprozess mitwirken?
Nein. Aber natürlich können sich Dinge ändern. Ich habe keine Kristallkugel, deswegen sage ich niemals nie.
Das Gespräch führte Astrid Prange