Inflation in Argentinien: US-Dollar statt Peso?
2. Oktober 2023Es ist Montagnachmittag in San Martin, als das Spektakel beginnt. Erst spucken ein paar blaue Busse junge Anhänger mit Megaphonen aus, die die Stimmung anheizen, dann kommen immer mehr Menschen aus den Seitenstraßen hinzu. Die sogenannte "Karawane der Freiheit" des libertären Präsidentschaftskandidaten und selbsternannten "Anarcho-Kapitalisten" Javier Milei macht Station in der Provinz Buenos Aires.
Die wichtigsten Symbole der Kampagne: Eine Motorsäge, mit der die herrschende "Kaste" abgesägt werden soll. Und jede Menge Dollarscheine - auf ihnen ist das das Portrait von Milei gedruckt. Als der Kandidat selbst auf die Pritsche eines Jeeps steigt, reichen ihm die Menschen die Scheine für Autogramme, er selbst hält einen riesigen Dollarschein in die Kamera.
Eine Rede hält Milei nicht, dafür bricht tosender Jubel aus, als er die Tasche eines Kurierdienstes, die ihm ein Fahrer reichte, erst unterschreibt und dann triumphal in die Höhe reckt. Ganz offenbar trifft Milei mit seinem radikal-marktliberalen Programm die Stimmungslage eines Teils jener Arbeiterklasse, die ganz unten in der Einkommenshierarchie steht.
"Wir brauchen eine 180-Grad-Kehrtwende"
"Die Lage ist schrecklich. Wir befinden uns in einer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise", sagt Rebeca Fleitas im Gespräch mit der DW. Sie ist die erste Abgeordnete von "La Libertad Avanza", die es in ein Parlament in Buenos Aires schaffte. Javier Milei ist der Vorsitzende des libertären und ultrarechten Parteienbündnisses.
Nun greift Milei gar nach der Präsidentschaft. Nach jüngsten Umfragen liegt er derzeit leicht vorne und darf hoffen, sich beim ersten Durchgang am 22. Oktober für eine wahrscheinliche Stichwahl am 19. November zu qualifizieren.
"Obwohl wir mal eine der wirtschaftsstärksten Nationen der Welt waren, haben wir heute eine Armutsrate von 40 Prozent und Kinder, die unterernährt sind und die nicht zur Schule gehen. Was wir brauchen, ist eine 180-Grad-Kehrtwende", sagt die Abgeordnete Fleitas. Und das Symbol dafür ist die Dollarisierung, also die Landeswährung Peso durch die US-Währung zu ersetzen.
Wirtschaftsdaten machen wenig Hoffnung
Tatsächlich ist die wirtschaftliche Lage des Landes dramatisch: Vor wenigen Tagen veröffentlichte das Institut "Indec" die neuesten Zahlen. Demnach gelten in dem südamerikanischen Land 18,5 Millionen Menschen als arm oder extrem arm. Die aktuelle Inflationsrate beträgt rund 120 Prozent.
Wer durch die Straßen der Hauptstadt geht, sieht überall improvisierte Unterkünfte von Obdachlosen, im Zentrum überbieten sich Geldwechsler mit Angeboten für einen "Cambio". Bettler versuchen von Cafe-Besuchern ein paar Pesos zu bekommen.
An den Schaufenstern hängen die tagesaktuellen Wechselkurse für den Dollar, den Euro oder den brasilianischen Real. Diese Rahmenbedingungen sind eine Steilvorlage für den Präsidentschaftskandidaten Milei.
Mindestlohn kurz vor der Wahl erhöht
Jene fast 19 Millionen Argentinier, die unter der Armutsgrenze leben, denken nicht mehr bis zum Monatsende, sondern nur noch, wie sie die laufende Woche überstehen. Die Regierung des gescheiterten linksperonistischen Präsidenten Alberto Fernandez erhöhte kurz vor den Wahlen noch einmal den Mindestlohn.
Fernandez selbst hatte schon im April verkündet, nicht für eine zweite Amtszeit zu kandidieren. Aber ob das dem peronistischen Kandidaten und Wirtschaftsminister Sergio Massa ins Präsidentenamt hilft, ist ebenso fraglich wie die Haltbarkeit des aktuellen Hypes um Javier Milei.
Dessen Vorschläge sind radikal: Er will staatliche Institutionen massiv abbauen, die Landeswährung Peso durch den US-Dollar ersetzen und privaten Waffenbesitz erleichtern. National und international finden seine Positionen zwar ein großes mediales Echo, doch es gibt auch massive Zweifel an der Umsetzbarkeit. Und ein nicht unerheblicher Teil der Argentinier hat davor Angst.
Sebastián Menescaldi, stellvertretender Direktor der Beratungsfirma EcoGo, sieht ganz pragmatische Hindernisse auf einem Weg zur Währungsumstellung: "Die Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft ist von einem Tag auf den anderen fast unmöglich, weil die Zentralbank keine Dollars hat."
Attacken gegen den Papst
Der als "Padre Pepe" populäre Armenpriester José di Paola ist - wie der gesamte linke Flügel der Kirche - entsetzt über Mileis Freiheitsverständnis und dessen Attacken auf den Papst, dem Mileis eine inhaltliche Nähe zum Sozialismus vorwirft.
"Soziale Gerechtigkeit braucht eine bestimmte Vorstellung von Freiheit. Freiheit heißt nicht nur, das tun zu können, was mir passt. Es geht auch darum, was ich für andere tun kann", sagt Padre Pepe.
In San Martin ist die "Karawane der Freiheit" derweil nach 40 Minuten beendet. Entstanden sind spektakuläre Bilder für die sozialen Netzwerke und die Titelseiten der argentinischen Zeitungen.
Doch je näher der Wahltag rückt, wächst der Druck auf Milei, endlich zu erklären, wie er die Dollarisierung konkret umsetzen will. Diesen Fahrplan ist er bislang schuldig geblieben. Vielleicht hat er sich das für die Fernsehdebatten aufgehoben.