Kulturkampf mit Pfeil, Bogen und Handy
26. April 2021"Waaas? Du hast Internet?", fragt der Moderator in demonstrativer Überraschung, als er die 19-jährige Influencerin Alice Pataxó für den Youtube-Kinderkanal "Canal IN" interviewt. Mit Federkranz und traditioneller Gesichtsbemalung sitzt die zugeschaltete Pataxó vor einer hellen Stoffwand und spricht in ihre Handykamera: Sie sei zu Hause in ihrem Dorf im Naturschutzgebiet Monte Pascoal im Süden des Bundesstaats Bahia etwa 40 Kilometer vom nächsten Supermarkt entfernt. "Telefon haben wir hier nicht, aber das Internet über Satelliten ist stabil", erklärt sie.
Im Laufe der Sendung erzählt Pataxó von Traditionen, Bräuchen und der Lebensweise ihres Volkes. Es gehört zu ihrer Tätigkeit als Indigenen-Aktivistin zu erklären, dass es eben kein Widerspruch ist, dass ihr Volk von selbst Angebautem lebt und das Internet nutzt. Dass ihr Schulunterricht teilweise im Wald stattfand und sie nun an der Bundesuniversität von Südbahia studiert.
Das Internet als Sprachrohr
Doch nicht immer erklärt Alice Pataxó das so ruhig und freundlich wie in der Kindersendung. Auf ihren eigenen Social-Media-Kanälen wirkt sie kämpferischer - und auch genervter über die gängigen Klischees, die ihr immer wieder entgegenschlagen: Ihre Haut sei doch viel zu hell für eine echte Indigene. Ihr traditioneller Kopfschmuck und die Gesichtsbemalung seien doch nur Maskerade.
In einem ihrer jüngsten Tweets fragt sie: "Wer ist der brasilianische Indigene?" Pataxó hat ihre Antworten darauf: Indigen zu sein, habe durchaus etwas mit Traditionen zu tun, aber nicht mit Rückständigkeit. Die Identität ergebe sich aus dem Zugehörigkeitsgefühl - und aus dem ewigen Kampf gegen Kolonisation: Bis heute, sagt sie, wolle die brasilianische Gesellschaft den Indigenen nach Möglichkeit alles nehmen, was sie ausmache - vom Territorium bis hin zur Identität: "Wenn wir nicht komplett isoliert leben, sind wir angeblich keine Indigenen. Das ist ein koloniales Denken, gegen das wir Tag für Tag kämpfen", sagt sie.
Das Kämpfen gewohnt
Ihr Aktivismus ist nicht Pataxós erster Kampf: Mit 15 Jahren kampierte sie eine Zeit lang mit ihrer Familie am Rand einer Bundesstraße, weil ihr Dorf von der Polizei geräumt worden war. Die Gegend war Ziel von Immobilienspekulationen. Aber der Überlebenskampf habe sie stark gemacht: "Wenn ich heute das Gefühl habe, etwas nicht zu schaffen, rufe ich mir in Erinnerung, dass ich schon Schlimmeres überstanden habe", sagt sie. "Was ich mache, tue ich, damit andere indigene Kinder das nicht erleben müssen."
Auf Twitter und Instagram hat sie jeweils etwa 75.000 Follower, darunter einige brasilianische Prominente wie der Sänger Emicida, der Humorist Marcelo Adnet und die Politikerin Marina da Silva.
Rituale helfen, Vorurteile zu ertragen
Ähnlich groß ist die Instagram-Gefolgschaft von Cristian Wariu Tseremey'wa. Sein Youtube-Kanal hat 33.000 Abonnenten. Cristian Wariu, wie er sich dort meist nur nennt, zählt sich zum Volk der Xavante, deren Heimat Zentralbrasilien ist. Er hat aber auch Guaraní-Vorfahren, die weiter südlich leben.
Als einzigem Indigenen in der Schule schlugen ihm viele Vorurteile entgegen - auch von Lehrern. Damals hätte er sich nie getraut, mit typischen Merkmalen von Indigenen, wie dem dichten, glatten, schwarzen Haar zu kokettieren, wie er es heute in einem Instagram-Video tut, obwohl ihn dieselben Klischees jetzt in den sozialen Medien verfolgen.
Stolz auf die indigene Herkunft
"Wenn es Raum für eine Diskussion gibt, steige ich ein, aber ich habe auch kein Problem, mich einfach auszuklinken, wenn es keinen Sinn hat", sagt der 22-Jährige. "Die Rituale der Xavantes enthalten viele Prüfungen, körperliche und psychische", erklärt er. "Das Leben spielt dir früher oder später übel mit und du musst lernen das auszuhalten."
Wenn er sagt, dass er Vorurteile aushält, geht es um seine seelische Gesundheit, nicht um seine Haltung nach außen. Denn auch er hat sich zur Aufgabe gemacht, Wissen über die Xavante und andere indigene Völker zu verbreiten, um Klischees zu überwinden: "Meine Eltern haben mir beigebracht, stolz auf meine Herkunft zu sein", sagt der Sohn eines der Stammesführer. "Im Internet können wir unsere Identität und unser Selbstbewusstsein stärken."
Mit Stereotypen brechen
Cristian Wariu hat in der brasilianischen Hauptstadt Brasília Organisationskommunikation studiert. Aber das Internet-Handwerk hat er sich selbst beigebracht. Auf alten Computern, die sein Vater von Reisen mitgebracht hat, hat er sich in Bildbearbeitungs- und Videoschnittprogramme eingefuchst. "Ich möchte Inhalte von hoher Qualität produzieren", sagt er, "allein damit breche ich schon ein Stereotyp - das vom faulen Indio, der die Sachen irgendwie hinschludert."
So sehr sich ihre Ziele ähneln, so unterschiedlich sind die Ansätze der beiden Influencer. Alice Pataxó inszeniert sich als jugendliche Aktivistin, ihre Twitter-Posts sind politisch aufgeladen, ihre Kommentare zugespitzt, die Bildästhetik wirkt auf ihre Weiblichkeit zugeschnitten.
Cristian Wariu dagegen tritt im T-Shirt vor die Kamera. Nur selten trägt er dazu eine Gesichtsbemalung oder die traditionellen Ohrstifte seines Volkes. Statt mit prägnanten Parolen erklärt er mit großer Ruhe und Freundlichkeit die Welt der Indigenen.
Unterstützung durch die Stammesälteren
Beide Influencer genießen für ihre Internet-Arbeit die Unterstützung ihrer Völker. Bei einer größeren Zusammenkunft nannten die Anführer der Xavantes Cristian Wariu einen "digitalen Krieger". Allerdings, erinnert sich der junge Mann, hätten viele von ihnen sein Engagement erst wahrgenommen, als er in einer nationalen Talkshow zu Gast war. Denn das Internet nutzen die älteren Indigenen kaum, sagt er.
"Die Älteren wollten immer diese Sichtbarkeit, haben sie aber nie erreicht, weil sie zu beschäftigt damit waren, ihre Territorien zu verteidigen", sagt Cristian Wariu. "Deshalb ist es für sie eine große Genugtuung, eine indigene Stimme im Fernsehen zu sehen, die darüber hinaus noch eine Figur in einem so modernen Medium wie dem Internet ist."