Indiens erste Single-Börse für Homo-Ehen
20. Dezember 2018In ganz Indien gilt: körperliche Zuneigung gehört nicht in die Öffentlichkeit. Keine Küsse, kein Händchen halten – nicht für heterosexuelle Paare und für homosexuelle schon gar nicht. 90 Prozent aller indischen Ehen sollen von den Eltern eingefädelt worden sein. Unvorstellbar für romantische Europäer, die fest daran glauben, die große Liebe auf einem Spaziergang oder an der Supermarktkasse zu treffen. In Indien ist man sich hingegen sicher, dass man Liebe lernen könne; sie könne ja schließlich wachsen und man arrangiere sich eben.
Für Heterosexuelle gibt es deshalb unzählige Anzeigenportale, in denen potentielle Partner, sortiert nach Aussehen, Einkommen, Kaste, Sprache oder Religion, angepriesen werden. Ein Angebot zu "Er sucht Ihn" oder "Sie sucht Sie" gibt es dagegen erst seit drei Jahren: Die junge Studentin Urvi Shah gründete 2015 Indiens erste und bislang einzige Ehepartner-Börse für gleichgeschlechtliche Paare, das "Arranged Gay Marriage Bureau".
Kreative Umgehung der Gesetzeslage
Dabei sind gleichgeschlechtliche Hochzeiten in Indien bislang offiziell gar nicht möglich. Seit 1860 stellte Artikel 377 des Strafgesetzbuches gelebte Homosexualität unter Strafe. Im September 2018 hob der Oberste Gerichtshof diesen zwar auf, die "Ehe für alle" wurde dabei aber nicht diskutiert. Einige hinduistische Priester führen dennoch Zeremonien durch und so gab auch Hrishi Sathawane seinem vietnamesischen Freund Vinh in seinem Heimatort Yavatmal im Bundesstaat Maharashtra 2017 das Ja-Wort. Als erste öffentliche Home-Ehe landete die Zeremonie vor Familie und Freunden landesweit in den Schlagzeilen.
Die Gesetzeslage interessierte Urvi Shah von Anfang an wenig. "Jeder braucht irgendwann einen Partner fürs Leben, das will ich auch Schwulen und Lesben ermöglichen, unabhängig davon, was das Gesetz erlaubt." Eine absurde Idee? Mit Hilfe eines Bekannten ließ sie das Unternehmen vor drei Jahren in Chicago registrieren, um bürokratischen Problemen in Indien aus dem Weg zu gehen. Ihre Eltern erklärten sie für verrückt. "Ich bin über 50 und habe in meinem ganzen Leben noch keine Homosexuellen gesehen oder getroffen. Ich glaube nicht, dass es sie gibt", argumentierte ihr Vater.
Gesellschaftliches Tabu
Seine Tochter klärte ihn auf und stellte ihm schwule Freunde wie Deep Soni vor. Sich zu outen sei für viele eine Horrorvorstellung, erzählt Deep. Der 22-Jährige besucht regelmäßig die Treffen von Queerabad, einer LGBTQI-Aktivistengruppen in Ahmedabad, wo ganz offen über Probleme und Ängste gesprochen wird. Indien sei eine Gesellschaft, in der Homosexualität mit Teufelsaustreibungen und schwarzer Magie behandelt werde und Ärzte glauben, dass dies die Folge eines schlimmen Traumas in der Kindheit sei, gegen das Medikamente helfen würden. Shah kennt einen 78-jährigen Mann aus Ahmedabad, der seit 45 Jahren Tabletten nimmt: "Er ist immer noch schwul", so ihre nüchterne Bilanz. Es sei ein Teufelskreis, denn da nur ein Bruchteil der LGBTQI-Gemeinde offen mit der eigenen Sexualität umgehe, bliebe die Gesellschaft in dem Glauben, dass Schwule und Lesben gar nicht existierten.
Das Ziel von Shahs Partnerbörse sind langfristige Beziehungen. "Wir sind keine Dating-App, über die man gelegentlichen Sex findet", stellt sie klar. 700 bis 800 Anfragen bekommt Shah pro Woche, doch jede Registrierung sei aufwendig und kostenpflichtig, das schrecke viele ab.
Sorgfältige Prüfung der Interessenten
Interessierte müssen für eine Aufnahme diverse Kriterien erfüllen: Das Mindestalter ist 24, Identität, Zeugnisse und finanzielle Unabhängigkeit werden geprüft, ausführliche Fragebögen erzählen die Lebensgeschichten. Das sei ihr wichtig, denn Fake-Profile könne sie sich nicht erlauben, so Shah. Geschiedene Singles werden aufgenommen, Verheiratete dagegen nicht. Am Ende dieses Screenings schrumpften 800 Anfragen auf etwa 80 interessierte Klienten. "Und mit denen telefoniere ich dann", sagt Shah und lacht. Das sei ihre Leidenschaft, Menschen kennenzulernen, bei bevorstehenden Outings zu beraten und natürlich passende Partner vorzuschlagen. Pro Woche registrieren sich vier bis fünf Personen.
Bereits nach ein paar Monaten öffnete die junge Inderin die Plattform auch für Transgender. Registriert sind derzeit 1.400 Homo- oder Bisexuelle, 700 Transgender und drei Queers, 129 davon leben in Deutschland. Die Erfolgsbilanz nach gut zwei Jahren: 36 Paare haben bereits geheiratet, entweder standesamtlich im Ausland oder im Rahmen einer Zeremonie in Indien – keine schlechte Quote angesichts der vorherrschenden Einstellungen. Weitere 113 Paare leben in einer festen Beziehung.
Eine spezielle Kategorie von Anfragen bereitet Shah jedoch Kopfschmerzen. Dabei geht es um eine sogenannte Marriage of Convenience (MOC), mit anderen Worten, eine Scheinehe. Ein Schwuler und eine Lesbe, beide nicht geoutet, werden von der Familie gedrängt, zu heiraten. Anstatt einen heterosexuellen Partner zu finden, helfen sich die beiden gegenseitig aus der Klemme: Sie "heiraten", um endlich Ruhe vor den ständigen Fragen der Verwandten zu haben. "Der leichte Weg ist in Indien immer eine Hochzeit, das ist ein riesiges Problem", findet die 25-Jährige. Shah hat 300 solcher MOC-Klienten, drei Hochzeiten haben bereits stattgefunden.
"Ehe für alle" hat nicht für alle Priorität
Indiens LGBTQI-Gemeinde ist vielfältig und man ist sich keinesfalls einig darüber, welche Ziele nach dem Fall von Artikel 377 als nächstes verfolgt werden sollten. Gerade die Frage nach einer "Ehe für alle" spaltet die Szene. Bei Anwälten in Delhi sind bereits die ersten Petitionen für die Öffnung der existierenden Ehe-Gesetze eingegangen. Anahita Sarabhai und Shamini Kothari, die Gründerinnen von Queerabad, sehen den Kampf für eine indische "Ehe für alle" weit hinten auf der Prioritätenlisten, denn "viele von uns werden belästigt und gedemütigt, Transgender haben keine Chance auf reguläre Jobs, sie überleben nur durch Betteln und Prostitution – wer denkt da an Ehe", so Sarabhai. Nur wenn man sonst keine Probleme habe, fange man an, über die Gleichstellung der Ehe nachzudenken, ergänzt Kothari.
Homosexualität ist zwar kein Verbrechen mehr, gleichzeitig ist ein Urteil des Obersten Gerichtshofs in Indien keine Garantie für Akzeptanz in der Gesellschaft. Zu groß und mächtig scheint der Einfluss von Kultur, Traditionen, Religion und sozialen Strukturen. Urvi Shah setzt deswegen auf die Zukunft: 600 Millionen Inder, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, sind jünger als 25 Jahre. "Wenn wir sie offen und tolerant erziehen, haben wir in 50 Jahren ganz automatisch ein anderes Indien", glaubt Shah.