Indien und die Prohibition
29. September 2016Chennai, die Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu an der Ostküste Indiens: Ein Pulk mittelalter Männer drängt sich an den Eingang eines Ecklokals, das mit rostigen Gitterstäbe gesichert ist. Die Wartenden wedeln ungeduldig mit Rupienscheinen, um die Aufmerksamkeit des Kassierers auf sich zu ziehen. Dieser lässt sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Lakonisch sammelt er das Geld ein, stapelt die Bündel in einem Umzugskarton und verteilt anschließend bräunlich schimmernde Flaschen an die Durstigen. "Das ist kein Getränk, sondern pures Gift", sagt einer der Männer - offensichtlich beschwipst -, ehe er eine Pulle in die Tasche seiner Jeans zwängt. Immerhin 220 Rupien, umgerechnet knapp drei Euro, hat er für den Brandy-Verschnitt bezahlt. Die einizge Alternative, lauwarmes Bier, interessiert hier niemanden.
Rund 6800 solcher staatlich regulierter Alkohollokale gibt es in Tamil Nadu. Wer nicht über das nötige Kleingeld verfügt, um die Bars in den Sterne-Hotesl zu frequentieren, bleibt keine Wahl. Er muss sich an die staatlichen Ausgabestellen wenden. Doch die Oppositionspartei in Tamil Nadu will damit Schluss machen.
Problematischer Trinkkonsum
Die Prohibition hat in Indien Konjunktur. Mehr als 200 Millionen Inder leben in Regionen, in denen bereits ein vollständiges Alkoholverbot herrscht. Das sind mehr als doppelt so viele Menschen wie zu Zeiten der Prohibition in den USA. Zuletzt folgte der Bundesstaat Bihar. Dort wurde am 5. April ein rigides Gesetz erlassen. Wer zur Flasche greift, kann lebenslang hinter Gitter wandern. Auf Verkauf sowie Herstellung von Alkohol steht gar die Todesstrafe. Dennoch sind im letzten Monat 13 Dorfbewohner aus Bihar gestorben, nachdem sie sich mit selbstgebranntem Schnaps vergiftet hatten.
Die indische Gesellschaft pflegt seit jeher ein zwiespältiges Verhältnis zum Alkohol. Im Hinduismus ist das Nervengift zwar nicht explizit verboten, gilt jedoch als Laster. Zudem wird das Trinken von vielen bis heute als Überbleibsel der britischen Kolonialherren betrachtet. Verglichen mit Europäern konsumieren Inder im Schnitt vergleichsweise wenig. Rund ein Drittel der Bevölkerung greift zumindest gelegentlich zum Glas. Zwischen 1992 und 2012 ist der Alkoholkonsum jedoch um 55 Prozent gestiegen. Zudem ist vor allem das Trinkverhalten vieler Inder problematisch: Es wird fast ausschließlich Hochprozentiges konsumiert. Das südindische Tamil Nadu führt mit sieben Millionen Alkoholikern relativ gesehen die Alkoholrangliste des Landes an.
"Hier trinken Schulkinder schon vor der Schule. Alkoholismus ist Teil der Alltagskutur geworden", sagt Henri Tiphagne, Gründer der Menschenrechtsorganisation People's-Watch. Als Rechtsanwalt setzt er sich seit Jahrzehnten für die Rechte der Ärmsten in Tamil Nadu ein - jener Bevölkerungsgruppe, in der der Alkohol den größten Schaden anrichtet. Soziale Konflikte wie häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch oder erdrückende Schulden sind eng mit dem Alkoholkonsum der Menschen verflochten. Vor allem Frauen leiden unter der Situation. "Wegen des Alkoholkonsums ihrer Männer müssen die Frauen oft Zweitjobs annehmen. Nur so können sie die Familie ernähren, denn die Männer versaufen ihr Gehalt ", sagt Tiphagne.
"Morgens haben meine Hände gezittert"
Um die Worte des Menschenrechtsaktivisten zu verstehen, hilft ein Blick nach Kannaga Nagar, dem größten Slum in Tamil Nadus Hauptstadt Chennai. Rund 15.000 Familien wurden hier von der Lokalregierung aus ihren illegalen Behausungen in pastellfarbene Wohnblöcke zwangsumgesiedelt. Hunde, Katzen und Ziegen streunen durch die von Plastikmüll verdreckten Straßen. Jugendzentren oder Kinosäle gibt es hier keine. Die nächst Schule liegt 15 Kilometer entfernt. Lediglich Trinkerstuben bieten Zuflucht vor dem tristen Alltag.
"Meine Hände haben morgens gezittert, ich konnte kaum mehr essen und bin schließlich krank geworden", erzählt der 40-jährige Slum-Bewohner Gopi, ein hagerer Mann mit eingefallenem Gesicht, verschmutztem Hemd und weißem Wickelrock. Vor drei Monaten habe er mit dem Trinken aufgehört, sagt er. Seitdem verlasse er kaum mehr sein Zimmer, vielmehr sein zehn Quadrat Meter großen Verschlag, in dem er mit seiner fünfköpfigen Familie lebt.
Seine Frau hingegen ist bereits seit vier Uhr auf den Beinen. Wie die meisten weiblichen Bewohner Kannaga Nagars nimmt sie frühmorgens den ersten Bus in eine der Villengegenden Chennais, wo sie als Dienstmädchen arbeitet. "Wenn die Männer mal für eine Woche Arbeit gefunden haben, dann vermasseln sie es meist in der nächsten Woche", sagt Gopi. "Das Geld, das bei der Familie bleibt, kommt von den Frauen."
Massive Steuereinnahmen durch Alkohol
Es wundert demnach nicht, dass die seit zwei Jahren immer wieder im ganzen Bundesstaat aufkommenden Anti-Alkoholproteste vor allem Frauen angeführt werden. Sie sind es auch, die massiven Druck auf die Lokalregierung Tamil Nadus ausüben. Mit Prohibitionsversprechen lassen sich vor allem die Stimmen der weiblichen und muslimischen Bevölkerungsgruppen gewinnen.
"Dass es in Tamil Nadu tatsächlich zu einem kompletten Alkoholverbot kommt, halte ich für unrealistisch. Für die Regierung ist es schließlich ein außerordentlich gutes Geschäft", sagt Anwältin Geeta Ramaseshan, die am Obersten Gerichtshof von Chennai praktiziert. Im letzten Jahr hat der Bundesstaat rund vier Milliarden Euro durch Alkoholsteuern eingenommen. Der Alkoholkonsum finanziert damit nicht zuletzt auch die Sozialprogramme von Tamil Nadu. Dass die Lokalregierung keine Prohibition durchsetzt, hat zudem mit der eigenen Vergangenheit zu tun. Wann immer in den letzten Jahrzehnten ein Komplettverbot eingeführt wurde, sind jährlich hunderte Bewohner Tamil Nadus an gepanschtem Alkohol gestorben.