Indien: Kein Land für Alte
18. Dezember 2017Nalini hält die Hand der alten Frau fest in ihrer eigenen. Sie hört ihr einige Minuten zu, dann will sie weiter. Doch die alte Inderin lässt ihre Hand nicht los. Sie will erzählen. Sie will aufstehen. Sie wolle tanzen, wie früher, sagt sie. Sie sei Tänzerin gewesen. Ihre Augen strahlen, für einen kurzen Moment. Dann ist da wieder Leere. Um sie herum sitzen einige andere alte Frauen. Sie alle seien geistig krank, erklärt Nalini später beim Herausgehen leise.
Nalini ist Supervisorin im Altenheim Abhaya Asmarya (Artikelbild) in der Nähe der indischen Stadt Mangalore im südwestlichen Bundesstaat Karnataka. Es ist ein Platz für die vielen indischen Frauen und Männer, die alleine und bettelarm auf den Straßen leben oder deren Familien sie nicht mehr wollen. Hier, im Abhaya Asmarya, wird ihnen ein strikter Tagesablauf vorgegeben, es gibt feste Zeiten für nahezu alles. Auch krank sein ist erlaubt, ab und an kommen Ärzte. Schwere Fälle versorgt ein Krankenhaus in der Nähe. Es ist ein guter Ort. Auch wenn keiner wirklich hier sein möchte.
Von Staat und Familie im Stich gelassen
"Indien ist kein Land für alte Menschen", sagt Matthew Cherian, Geschäftsführer von HelpAgeIndia, der größten indischen NGO, die sich um die Belange der Betagten sorgt. Indien entwickle sich immer mehr zu einem Land für die Bedürfnisse der Jungen und Smarten. Aber der Anteil der über 60-Jährigen steigt stetig, bis 2050 werden es nach Angaben des All Indian Institute for Medical Sciences (AIIMS) 320 Millionen sein. Das entspricht einem Fünftel der Gesamtbevölkerung. Und schon jetzt sind 120 Millionen Inder 60 Jahre und älter.
Das Problem: Formen der sozialen Absicherung im Alter gibt es in Indien so gut wie nicht. Lediglich 1,6 Prozent der Älteren – diejenigen, die zu den ärmsten der Armen zählten – bezögen eine Art Rente über das National Old Age Pension Scheme, erklärt Cherian. Auf dem Papier existieren zwar eine ganze Reihe von guten Ansätzen zum Schutz und zur Vorsorge alter Menschen. "Diese Vorgaben umzusetzen braucht in einem so bevölkerungsreichen und verschiedenartigen Land wie Indien aber Zeit", sagt der Geschäftsführer der NGO.
Großfamilie bietet nicht mehr den Halt wie früher
Viele alte Menschen in Indien sind nicht nur mittellos und ohne soziale Absicherung. Sie werden darüber hinaus auch noch schlecht behandelt, meist von ihren eigenen Familien, weiß Shri Shreenath Hegde, Präsident des Altenheims in der Nähe Mangalores. 50 Prozent der Alten werden Studien von HelpAgeIndia zufolge verbal oder körperlich misshandelt. Häufig von der Schwiegertochter, die mit im Haus lebt, immer häufiger auch vom eigenen Sohn.
"Das System der erweiterten Großfamilie, das Indien über Generationen gelebt hat, funktioniert nicht mehr", erklärt Hegde diese Entwicklung. Auch deshalb brauche sein Land mehr spendenfinanzierte Altenheime wie das seine. Bislang sind nach Angaben von HelpAgeIndia nur knapp 220.000 Menschen in Heimen untergebracht. Privat finanzierte Heime gibt es zwar auch, sie sind aber nur für eine verschwindend kleine Minderheit erschwinglich.
Gesundheitssystem versagt bei den Alten
HelpAgeIndia engagiert sich auch für die medizinische Versorgung der vergessenen Alten. 142 mobile medizinische Einheiten sind überall im Land im Einsatz. Seit 1978, der Gründung von HelpAgeIndia, behandelten freiwillig für die NGO tätige Ärzte 23 Millionen Menschen. Die meisten von ihnen litten unter chronischen Erkrankungen. Darüber hinaus gibt die NGO Essen, Kleidung und Geld aus, veranstaltet Health Camps für alte Menschen und schickt Einsatzkräfte zur Hilfe aufs Land.
Auf Drängen von HelpAgeIndia wurde der Umfang des vor zehn Jahren eingeführten Krankenversicherungsschutzes für Arme in Indien (Rashtriya Swasthya Bima Yojana, kurz RSBY) zum 1. April 2016 speziell für alte Menschen erweitert. "Wir möchten, dass sich endlich mehr ältere Menschen um die Versicherungskarte bewerben", sagt Jain Nishant von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Delhi. Allerdings scheitert das oft einfach daran, dass die Betroffenen davon gar nichts wissen, die Analphabetenrate ist bei Älteren besonders hoch.
Zu den sozialen Problemen, denen Alte in Indien ausgesetzt sind, gesellt sich noch ein weiteres: Es herrscht ein großer Mangel an medizinischen Fachkräften, die sich um die gesundheitlichen Belange alter Menschen kümmern können, erläutert Professor Prabha Adhikari vom Yenepoya Medical College in Mangalore. Adhikari zählt zu den wenigen Ärzten für Geriatrie, über die Indien verfügt. Über den ganzen Subkontinent verteilt gibt es lediglich sechs Professuren für Geriatrie. Nur vier medizinische Hochschulen bieten eine Weiterbildung zum Facharzt für die Alters- bzw. Altenmedizin an. Die Ärztekammer Indiens verlangt, dass jede medizinische Hochschule eine eigene Abteilung für Geriatrie hat. Davon, sagt Adhikari, sei Indien aber Lichtjahre entfernt. Schließlich mangele es auch an Ausbildern. Zudem verdienten viele Ärzte als Facharzt für Innere Medizin besser denn als Facharzt für Geriatrie. Der Anreiz sei also gering.
Pflegenotstand
Selbst wenn Indien mehr Ärzte hätte, die sich mit den Besonderheiten des Alters auskennen, würde das nichts an einem weiteren Mangel ändern: es gibt viel zu wenig Pfleger. Dr. Mohanraj Raj hat vor einiger Zeit einen privaten Pflegedienst in Mangalore aufgebaut. Home Care sei in Indien ein neues Geschäftsfeld, sagt er, eines, das aufgrund der wachsenden Mittelschicht eigentlich große Wachstumsaussichten hat.
Raj hat kein Problem, wohlhabende Familien zu finden, die für ihre Eltern eine häusliche Pflegekraft suchen, aber er hat ein massives Problem, Mitarbeiter zu rekrutieren. "Ich muss bis an die äußersten Grenzen Karnatakas fahren, dort, wo hohe Arbeitslosigkeit herrscht, um Mitarbeiter zu finden", erzählt er. Der Grund: In Indien wolle niemand andere Menschen waschen oder gar pflegen. Das sei mit der Kultur des Landes schwer vereinbar.