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Politik

In Tokio geht eine Ära zu Ende

Martin Fritz aus Tokio
28. August 2020

Als Premier wollte Shinzo Abe das weltpolitische Gewicht Japans steigern. Eine Krankheit verursacht nun das vorzeitige Aus. Damit bleibt sein lebenslanger Traum einer Verfassungsreform unerfüllt. Martin Fritz aus Tokio.

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Japan Premirminister Shinzo Abe erklärt Rücktritt
Bild: Reuters/F. Robichon

Am Montag stellte Shinzo Abe noch einen neuen Rekord für die längste Amtszeit eines japanischen Premierministers seit 1885 auf (2006 bis 2007 und 2012 bis heute). Nur vier Tage später hat der knapp 66-jährige Politiker seinen Rücktritt verkündet. Abe hätte regulär noch bis September 2021 regieren können. Aber seine Gesundheit machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Seit seiner Teenagerzeit leidet er an Colitis Ulcerosa, einer unheilbaren chronischen Entzündung des Dickdarms. Deswegen musste Abe schon bei seiner ersten Amtszeit  vorzeitig das Handtuch werfen. Später ermöglichte ihm ein neues Medikament das Comeback. Aber das Aufflammen der Krankheit zwang ihn jetzt erneut zum Aufgeben.

Als erster japanischer Regierungschef, der nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, trat Abe mit dem Versprechen an, die Nachkriegsordnung zu verändern und ein "starkes und blühendes Japan" aufzubauen. Er wollte das weltpolitische Gewicht seines Landes sichern und erhöhen. Diese Ziele spalteten die Gemüter in Japan. Für die einen symbolisierte Abe ein chauvinistisches, ultrakonservatives und rückwärtsgewandtes Japan, da er keine Reue für den japanischen Krieg in Asien zeigen wollte. Die anderen betrachteten ihn als pragmatischen Reformer, der die Wirtschaft und das Bündnis mit den USA stärkte, damit Japan "niemals zu einer Nation zweiter Klasse absteigt", wie er es selbst formulierte.

China Ostasien-Gipfel
Abe (r.), hier mit Chinas Premier Li (m.) und Südkoreas Präsident Moon im Jahr 2019, wollte keine Reue für den japanischen Krieg in Asien zeigenBild: picture-alliance/AP/Kyodo/Yoshitaka Sugawara

Rückkehr zur Stabilität

Seine erkennbare Leistung bestand darin, Japan nach Jahren mit ständig wechselnden Premierministern in ruhiges Fahrwasser zu lenken. "Die Herstellung von Stabilität war sein wesentlicher Erfolg", meint der deutsche Japanexperte Sebastian Maslow. Nie in ihrer Geschichte waren die Reihen seiner Liberaldemokratischen Partei dichter geschlossen. "Zugleich ist es Abe wie nur wenigen vor ihm gelungen, die Bürokratie und die Presse effizient zu kontrollieren", sagt der Politologe von der Frauenuniversität Sendai. Daher konnte Abes Regierungskoalition bei allen Wahlen eine Zweidrittelmehrheit erringen. Auch mehrere Fälle von Vetternwirtschaft und Korruption konnten ihm nichts anhaben.

Seine Dominanz nutzte der Premier, um durch zahlreiche Auslandsreisen das Profil seines Landes auf der Weltbühne zu schärfen und den Einfluss Chinas zurückzudrängen. Zugleich öffnete er das Inselland wie nie zuvor für das Ausland. Seine Regierung schloss Freihandelsverträge mit der Europäischen Union sowie einer Gruppe von Pazifikstaaten ab und integrierte Japan auf diese Weise stärker in die Weltwirtschaft. Eine Reform der Unternehmensführung öffnete ausländischen Investoren die Türen. Sogar japanische Firmenikonen wie Sharp durften sie kaufen. Eine erleichterte Visumvergabe ließ die Zahl der Touristen aus Asien explodieren. Seine Regierung führte auch erstmals spezielle Arbeitsvisa ein, um den Arbeitskräftemangel als Folge der schrumpfenden Bevölkerung auszugleichen.

Ende des Aufschwungs

Die wirtschaftliche Bilanz seiner knapp acht Amtsjahre fällt durchwachsen aus. Dank des zweitlängsten Aufschwungs seit dem Krieg legte zum ersten Mal seit Mitte der 1990er Jahre das nominale Bruttoinlandsprodukt zu, obwohl die Bevölkerungszahl jedes Jahr zurückging. Die absolute Verschuldung stieg jedoch weiter an. Seine "Abenomics" getaufte Wirtschaftspolitik schwächte über die Wertpapierkäufe der Notenbank die japanische Währung. Die Firmengewinne kletterten auf Rekordhöhen. Das nutzte die Japan AG, um massenhaft ausländische Firmen zu übernehmen. Abe drängte die Unternehmen zu Lohnsteigerungen, erhöhte jedes Jahr den Mindestlohn und schaffte die Kindergartengebühren ab. Aber infolge der Pandemie steigen nun Schulden und Haushaltsdefizit wieder rasant an. Das Gespenst der Deflation droht zurückzukehren, wie zu Beginn der Ära Abe.

USA Abe gedenkt als erster japanischer Regierungschef der Opfer von Pearl Harbor
(Archiv) Abe gedenkt als erster japanischer Regierungschef der Opfer von Pearl Harbor in Honolulu 2016Bild: picture alliance/Kyodo

Wandel in der Sicherheitspolitik

Weniger Beachtung fanden tiefgreifende Veränderungen in der Sicherheitspolitik. Seinen lebenslangen Traum, die pazifistische Verfassung zu überarbeiten, konnte Abe nicht verwirklichen. Seiner Meinung nach wurde Japan die Verfassung von der damaligen Besatzungsmacht USA aufgezwungen. Aber er legte die Verfassung neu aus und machte dadurch den Weg frei für eine künftige Beteiligung japanischer Streitkräfte an Kampfeinsätze an der Seite des Bündnispartners USA. Die Ausgaben für Verteidigung stiegen jedes Jahr. Gegen starken Widerstand setzte seine Regierung ein Gesetz für den Schutz von Staatsgeheimnissen in Kraft. Kritiker warnten vor einem Rückfall in die Zeit vor dem Weltkrieg. Auch richtete Abe einen nationalen Sicherheitsrat ein und lockerte das Verbot von Waffenexporten. "Seine Nachfolger erben den stärksten Staat, den Japan seit 1945 hatte", sagt der amerikanische Experte Tobias Harris, Verfasser einer Abe-Biografie. Wer in Abes Fußstapfen tritt, wird nun seine Liberaldemokratische Partei entscheiden. Einen eindeutigen Favoriten gibt es bisher nicht.