In der Spirale der Gewalt
12. August 2014Die Bilder sind seit Wochen gegenwärtig. Bomben regnen auf den dicht besiedelten Gazastreifen nieder. Überall flüchten blutende, schreiende Menschen. Viele werden verletzt, viele sterben oder verlieren ihre Familie und ihr Hab und Gut. Und vor allem im derzeitigen Nahost-Konflikt scheint eine Gruppe besonders betroffen: Kinder. "Schon als wir im Jahr 2008 dort waren, hat man die Schatten unter den Augen der Betroffenen gesehen", sagte Kristina Wojtanowski von der Organisation Freunde der Erziehungskunst im DW-Gespräch. Die Abteilung für Notfallpädagogik ihrer Organisation kümmert sich seit 2006 um Kinder aus Krisengebieten auf der ganzen Welt.
Auch in diesen Tagen beobachtet Kristina Wojtanowski die Lage in Nahost ganz genau. Denn oft bleiben psychische Schäden. "Etwa jedes zehnte Kind, das eine Naturkatastrophe miterleben musste, behält bleibende Schäden", sagt sie. Aber naturgemachte Unglücke seien bei weitem nicht so prägend, wie von Menschen gemachte, sprich Kriege. Zwar gebe es dazu unterschiedliche Zahlen, "man sagt aber, dass etwa 75 Prozent der Kinder in Kriegsgebieten an posttraumatischen Störungen leiden".
Folgen für die ganze Gesellschaft
Bewusst bekämen Kinder ihre Situation etwa ab dem dritten Lebensjahr mit. Bereits in diesem Alter könnten sie unterscheiden, ob ein Knall ein Donner war oder eine eingeschlagene Bombe. Schlimm ist das auch für Erwachsene, sagt der Kinderrechtler Ralf Willinger von der Organisation Terre des Hommes. "Aber für Kinder ist es noch viel schlimmer, weil sie zwar merken, dass etwas nicht stimmt, aber nicht wissen und verstehen können, was es ist." Auch Säuglinge sind der Gefahr von bleibenden Schäden ausgesetzt. "Da passiert viel unterbewusst", erklärt Pädagogin Wojtanowski. "Wenn sie älter sind, erschrecken sie sich vielleicht, wenn es einen Knall gibt und wissen gar nicht warum."
Unbehandelte posttraumatische Störungen können sogar zu Spätfolgen für die ganze Gesellschaft führen. Sind die Kriegskinder selbst erwachsen, geben sie ihre negativen Erfahrungen indirekt an ihre Kinder weiter. Ganze Generationen wurden so schon negativ geprägt. Das zeigen auch Erfahrungen von deutschen Familien nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Psychotherapeutin Bettina Alberti ist Kriegstraumata in zahlreichen Biografien nachgegangen. Sie sagte gegenüber dem Online-Portal Evangelisch.de: "Viele Menschen haben mir berichtet, wie sehr sie von Ängsten belastet waren, die die Eltern ausstrahlten." Die Verschlossenheit der Eltern, die im Krieg Kinder waren, oder ihre gewalttätigen Entgleisungen führen dazu, dass die nächste Generation am Trauma beteiligt wird. Psychologen nennen das "sekundäre Traumatisierung", die dazu führen kann, dass Kinder, die nie einen Krieg erlebt haben, durch ihre geschädigten Eltern selbst an Einsamkeit, Leistungsdruck oder sogar Gewalt leiden.
Eine unaufhörliche Spirale
Vor allem bei Kindern, die selbst Kriege erleben mussten, kann es zu Gewaltreaktionen kommen, die zu einer unaufhörlichen Spirale führen können. Vor allem dann, wenn es sie besonders hart trifft und sie ihre Familie verlieren, deren Zusammenhalt für die Psyche der Kinder besonders wichtig ist. Es kann dann schon sein, dass sich Kinder aus Gaza, die keine psychologische Unterstützung bekommen, als Erwachsene Terrororganisationen anschließen, sagt Wojtanowski. Ralf Willinger ergänzt: "Rachegefühle, nachdem jemand seine Familie verloren hat, sind eine natürliche Reaktion." An diesem Punkt müssten Hilfsorganisationen ansetzen.
"In Flüchtlingslagern haben wir zum Beispiel gelbe Decken, die auf bestimmten Plätzen auf dem Boden liegen und den Kindern signalisieren, dass dort ein sicherer Ort für sie ist", sagt Willinger. In Kriegen seien sie sonst großen Gefahren ausgesetzt, vergewaltigt oder in anderer Weise missbraucht zu werden, so Willinger.
Sicherheitszonen für traumatisierte Kinder
Auch die traumatisierten Kinder im Gazastreifen brauchen dringend Orte, an denen sie sich wieder sicher fühlen können, ist sich die Notfallpädagogin Kristina Wojtanowski sicher. Im Moment ist das aber schwierig. "Die Einreisebestimmungen sorgen derzeit noch für Probleme. Weder über Israel, noch über Ägypten ist es leicht, für uns nach Gaza zu kommen", sagt sie. Außerdem sei es derzeit noch zu gefährlich. Geplant ist, dass sie Ende August nach Gaza reist. Dann will sie mit der Traumabewältigung der Kinder beginnen. Die Freunde der Erziehungskunst wählen dazu einen pädagogischen Ansatz. "Jeder Mensch funktioniert mit unterschiedlichen Rhythmen", sagt Wojtanowski. "Die sind bei den Kindern gestört und wir wollen sie durch viele Gespräche wieder in Ordnung bringen."
Besser wäre ihrer Ansicht nach nur eines: "Man sollte es nicht so weit kommen lassen, dass sie in Gefahr geraten."