Gedenken an Brandanschläge
26. August 2012Das Haus in der Mecklenburger Allee im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen, die ehemalige zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber, ist mit großen leuchtenden Sonnenblumen bemalt. Die Balkone des 10-geschossigen Hochhauses sind verglast. Der Rasen vor dem Haus ist frisch gemäht. Die Möwen kreisen auf dem Gelände, drei Kilometer vom weichen goldgelben Ostsee-Sandstrand entfernt. Eine Idylle. Wären da nicht die Ereignisse von vor 20 Jahren. Als Flammen loderten und aufgestachelte, hasserfüllte Jugendliche Leucht-Raketen gegen friedliche Menschen schleuderten. Die ungezügelte Gewalt richtete sich gegen Vertragsarbeiter, die zu DDR-Zeiten aus Vietnam angeworben worden waren und gegen Asylbewerber.
Mehrere Tage und Nächte lang wütete der Mob, während Schaulustige dabeistanden und den rechtsextremen Randalierern applaudierten. Erschreckende Bilder, die sich eingebrannt haben und zum kollektiven Gedächtnis gehören.
Verdrängen, vergessen - das funktioniert nicht
Heute sehen sich viele Anwohner in die rechte Ecke gedrängt. "Wir waren machtlos“, so der Tenor, "was hätten wir tun sollen?“ Eine fast trotzige Frage, die immer wieder gestellt wird, auch noch 20 Jahre nach den Ausschreitungen. "Es wurde nichts unternommen, kein Politiker kam hierher“, sagt Sieglinde Rehberger, eine Frau mit sonnengegerbtem Gesicht. Die 75-Jährige hat alles hautnah miterlebt. "Es war schlimm“, sagt sie, während sie mit bepackten Tüten am Fahrradlenker vor der Hausnummer 18 steht. Am überdachten Eingang hängen die Schilder einer Fahrschule und einer Arztpraxis. Dass keine Gedenktafel an die Ereignisse im August 1992 erinnere, verstehe sie nicht. "Daran muss erinnert werden. Das haftet uns ewig an.“
Ähnlich sieht es der 33-jährige Finanzbeamte Torsten Helm. Er will sich den Frust von der Seele reden und vielleicht auch das schlechte Gewissen? Er betont, wie wichtig die Erinnerung sei. Man müsse die Ereignisse von damals, "als Mahnung in den Köpfen behalten.“
Tröstende und vermittelnde Stimmen sind allerdings die Ausnahmen in Rostock-Lichtenhagen. Die meisten Passanten wollen sich nicht äußern zu den Vorgängen von damals. Andere pöbeln lautstark: "Die sollen uns in Ruhe lassen."
Unter der Oberfläche gärt es
31.000 Ausländer wohnen derzeit in Mecklenburg-Vorpommern, davon 7649 in Rostock. Auch Irina. Sie kommt aus der Ukraine. Vor acht Jahren bekam sie eine Wohnung in einem Plattenbau-Hochhaus im Stadtteil Lichtenhagen. "Na ja", sagt sie in ihrem weichen, russisch angehauchten Singsang, "die Menschen grüßen. Sind aber nicht immer nett. Machen Ärger.“ Sie hätte Drohbriefe bekommen. Nachbarn hätten sie gar bei der Wohnungsgesellschaft angeschwärzt. Sie zählt die Namen der Nachbarn auf, alteingesessene Rostocker, die schon zu DDR-Zeiten hier gewohnt haben. Und die es scheinbar nicht wollen, dass Russen oder Vietnamesen in ihrem Haus wohnen.
Angst hat Irina keine. Sagt sie. Aber so richtig wohl fühle sie sich auch nicht. Sie lächelt, hofft darauf, dass sich das Problem irgendwann in Luft auflöst. Ihr Mann will dazu lieber nichts sagen und hat sicherheitshalber die Flucht ergriffen. Aus einiger Entfernung ruft er seiner Frau zu, dass sie doch endlich zu ihm rüber kommen solle.
"Alles Quatsch", empört sich ein älterer Mann auf die Frage nach Vorurteilen gegenüber Ausländern. "Wenn sie ordentlich sind, Deutsch sprechen, dann klappt doch alles prima. Wir haben doch keine Probleme mit den Kanacken oder Fidschis."
Vor dem schäbigen Kiosk des Vietnamesen Hu auf dem Parkplatz eines Supermarktes sitzen eine Gruppe Männer und eine Frau. Sie trinken Bier und schimpfen weithin hörbar über die Journalisten, die Medien, die Politiker: "Wir können unser Bier nicht in Ruhe trinken, müssen sehen wo wir bleiben." Sein Leben lang hätte man sich schließlich nichts zu Schulden kommen lassen, klagt einer. Nun würde man permanent an die Ereignisse von damals erinnert. Fremde schauten einen verächtlich an, wenn man sage, man komme aus Lichtenhagen. "Einmal muss Schluss sein. Es kann doch nicht sein, dass man immer wieder die alten Geschichten neu aufwärmt.“
Die Kumpel nicken, ehe sie sich den nächsten Schluck Bier genehmigen. Einen Schlussstrich ziehen, dass wollen die Bewohner von Rostock-Lichtenhagen.
Die Erinnerung muss bleiben
Am 22. August 1992 begannen die Randalierer ihren Angriff auf das Wohnhaus. Die Bewohner sowie einige andere, die sich im Haus aufhielten, konnten sich damals nur retten, weil sie vor dem Feuer auf das Dach flüchteten. Am 22. August haben in diesem Jahr auch Demonstrationen, Podiumsdiskussionen und viele andere Aktionen begonnen – in Erinnerung an die Ausschreitungen vor 20 Jahren. Und am 26.8. kommt dann doch ein Politiker nach Rostock: Bundespräsident Joachim Gauck, ein gebürtiger Rostocker. "Wir sind verpflichtet, die Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen", sagt er. Und mahnt, man müsse "aus den Fehlern und Versäumnissen von damals lernen."
An die Geschehnisse erinnern und zugleich mahnen will auch die private Initiative "Lichtenhagen 2012". Sie hatte im Vorfeld des 20. Jahrestages schon 10.000 DVDs an Rostocker Haushalte verteilt mit einer bedrückenden zweistündigen Dokumentation des britischen Fernsehsenders BBC über die Ausschreitungen von 1992. Kosten der Aktion: 2500 Euro, finanziert durch sogenanntes Crowdfunding, Spendensammeln über das Internet. "Wir wollen das Bewusstsein über die Hintergründe schärfen, explizit die Jungen ansprechen, sie für die Gefahren des Rechtsextremismus sensibilisieren", sagt Lars Krüger, einer der Ideengeber. Er kritisiert, dass auch auf offizieller Ebene ungern über dieses Thema gesprochen werde. Vielmehr versuchten die Politiker durch Schweigen den Rechtsextremismus zu bekämpfen. Gleichzeitig hofften sie darauf, die Geschichtsvergessenheit verhindern zu können.