Impfen als Politikum - ein Blick in die Geschichte
16. Januar 2021Das Impfen gegen das Corona-Virus soll krank machen, der Gesundheit schaden, allein dem Staat dienen, seiner Datensammelwut oder Bill Gates. Impfgegner haben in den vergangenen Monaten erregt mobil gemacht, obwohl in Deutschland derzeit gar keine Corona-Impfpflicht besteht.
Die Debatte ums Impfen war immer "hoch politisch", sagt Medizinhistoriker Malte Thießen. "Beim Impfen ging es nie nur um den Pieks, sondern immer auch um Weltbilder", erläutert Thießen im Interview mit der DW.
Impfen als Politikum - weil es mit dem eigenen Körper, dem sozialen Umfeld und dem Staat zu tun hat. Die hitzigen Debatten sind aber nicht neu. "Schon vor 200 Jahren wurde um das Impfen gestritten und politisch intensiv diskutiert", erklärt Professor Thießen, der intensiv zur Geschichte des Impfens geforscht hat.
Impfpflicht im Kampf gegen die Pocken
Dass die Deutschen im internationalen Vergleich eher impfkritisch sind, hat auch mit der Geschichte des Immunisierens seit dem 19. Jahrhundert zu tun. Viele Argumente und Stereotype von damals finden sich bis heute.
Im Jahre 1874 wurde das sogenannte Reichsimpfgesetz erlassen, weil in ganz Europa immer mehr Menschen an den Pocken erkrankten und allein in Preußen Zehntausende starben. Die Pockenimpfung wurde Pflicht. Unumstritten war das nicht. In dieser Zeit kommt die sogenannte Lebensreform-Bewegung in Mode. Die schreibt sich die Optimierung des Körpers durch natürliche Mittel auf die Fahnen, etwa Sonne oder spezielle Diäten. Erste Impfgegner-Organisationen wurden schon 1869 in Leipzig und Stuttgart gegründet, fünf Jahre vor dem Reichsimpfgesetz. Der Reichsverband zur Bekämpfung der Impfpflicht kam bald auf 300.000 Mitglieder.
Impfungen seien für die Bewegung "Teufelszeug" gewesen, "etwas Künstliches, Chemisches, was dem Körper eingespritzt wird", sagt Malte Thießen. "Und das ist auch eine Erklärung dafür, dass sich die massive Impfkritik sogar ins alternative Milieu der Bundesrepublik bis heute fortsetzt".
Schon zu Beginn der ersten Anti-Impfkampagnen spielten antisemitische Klischees und Verschwörungstheorien eine Rolle. Zum Beispiel wurde früh die Vorstellung verbreitet, das Impfen sei "Teil einer jüdischen Weltverschwörung; dass man bewusst den deutschen Volkskörper schädigen möchte", erläutert Wissenschaftler Thießen. Klischees, die abgewandelt immer wieder in rassistischen und antisemitischen Anti-Impf-Tweets und Social-Media-Postings auftauchen.
Deutsche sind Impfskeptiker
Die Vorstellung vom allmächtigen Staat, der die Bürger in die Immunisierung zwingt, hat Tradition. Das ist möglicherweise auch ein Grund für die eher geringe Impfbereitschaft der Deutschen. In einer repräsentativen Befragung, die das Weltwirtschaftsforum WEF Ende Dezember durchgeführt hat, rangiert Deutschland im internationalen Vergleich nur im Mittelfeld.
Auch beim internationalen Vergleich zur Grippeschutzimpfung (Stand 2019) für über 65-jährige zeigt sich: Viele Deutsche fürchten den Impfstoff mehr als den Virus. Nur 35 Prozent der älteren Deutschen lassen sich gegen die Grippe impfen, aber 85 Prozent der Koreaner und 72 Prozent der betagteren Briten.
Dabei ist die Impfbereitschaft im Osten Deutschlands höher als im Westen, wie auch kürzlich eine Untersuchung des Robert-Koch-Instituts belegte. Auch das hat historische Gründe.
In der DDR wurde systematisch gegen Diphterie, Tuberkulose und Pocken zwangsgeimpft. Bis zu 500 Ostmark Strafe drohten jedem, der sich der Impfpflicht verweigerte. In der Bundesrepublik waren Pflichtimpfungen hingegen weitestgehend abgeschafft worden. Man setzte auf Aufklärung und Freiwilligkeit.
Kalter Krieg an der Impffront
Ein Beispiel ist die Polioimpfung gegen Kinderlähmung Anfang der 60er Jahre. Die DDR hatte sehr viel früher als die Bundesrepublik die Krankheit mit systematischen Impfprogrammen bekämpft. Die Zahlen bei den Erkrankungen gingen rapide runter, während im Westen immer wieder Polioepidemien ausbrachen. Im Wettrennen um die "Volksgesundheit" hatte die DDR die Nase vorn und machte sogar großzügige Angebote an den Klassenfeind.
Thießen berichtet von einem Angebot zur Hilfe von Ost nach West im Jahr 1961. Die DDR-Staatsführung bot dem Westen drei Millionen Dosen Polio-Impfstoff an, weil man ja seuchenfrei sei. "Das wäre natürlich ein Propaganda-Coup für den Osten gewesen", sagt Thießen. Bundeskanzler Konrad Adenauer habe damals aber dankend abgelehnt.
Die Geschichte zeigt: Impfpflicht nur "letztes Mittel"
Anfang der Woche hatte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) mit einem Vorschlag Furore gemacht. Weil viele Pflegekräfte sich offenbar nicht gegen das Coronavirus impfen lassen wollten, so Söder, solle man für diese Menschen über eine Impfpflicht nachdenken.
Historiker Malte Thießen rät ab. Die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen sei nur ein "letztes Mittel". Besser setze man auf Appelle und das Berufsethos von Pflegern und Ärzten. "Wenn sich jemand absolut nicht impfen lassen will, helfen auch keine Sanktionen." Denn ein weiteres Problem ist ausgiebig in der Impfgeschichte belegt: gefälschte Impfausweise: "Angeblich immunisierte Kräfte wären dann potentiell ansteckend, aber nicht als solche identifizierbar."