Putin wirbt um die kritische Jugend
21. Juli 2017Dmitrij Peskow wies im Vorfeld Spekulationen zurück, der Auftritt Wladimir Putins hätte mit dem Wahlkampf zu tun. Die Fragerunde in einem Bildungszentrum für begabte Jugendliche im südrussischen Sotschi am 21. Juli sei eine Fortsetzung früherer Gespräche in dieser Runde, so der Präsidentensprecher; die Veranstaltung wird vom Fernsehsender NTW unter dem Titel "Kein kindliches Gespräch" übertragen. Laut Peskow sei es auch keine Weiterentwicklung der "Direkten Linie", einer jährlichen mehrstündigen Bürgerfragerunde im Fernsehen. Putin hatte zuletzt im Juni diese Sendung absolviert und dabei offengelassen, ob er bei der Präsidentenwahl im März 2018 zum vierten Mal kandidiert.
Überraschung für den Kreml
Außer der bevorstehenden Wahl gibt es noch einen Grund, warum Putins angeblicher Routineauftritt vor Jugendlichen für Aufmerksamkeit sorgt. Die Gesprächsrunde findet kurz nach landesweiten oppositionellen Protestdemonstrationen statt, die vor allem von Schülern getragen wurden. Am 12. Juni und davor am 26. März waren Tausende dem Aufruf des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny gefolgt und gegen Korruption und die Regierung auf die Straße gegangen.
Dmitrij Gudkow, Leiter des renommierten Meinungsforschungsinstituts "Lewada-Zentrum", glaubt, dass Putins Auftritt in Sotschi sowohl mit den Wahlen als auch mit den Protesten zu tun habe. "Der Kreml ist besorgt über die Teilnahme der Jugend an den Protestaktionen und versucht, um diese Bevölkerungsschicht zu werben", so der Moskauer Soziologe.
"Ich kann mir gut vorstellen, dass das eine Reaktion auf die Proteste ist", sagt auch Benjamin Bidder, ehemaliger Moskau-Korrespondent des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" und Autor des Buches "Generation Putin". Es sei eine Entwicklung gewesen, "die der Kreml so hat nicht kommen sehen." Ein Teil der Jugend sei bereit, offen "gegen das Staatskonstrukt und gegen Putin als Person" zu demonstrieren. Eine vergleichbare Protestwelle hat es in Russland seit dem Winter 2011/2012 nicht gegeben, damals ausgelöst durch Putins Ankündigung, erneut als Präsident zu kandidieren, und durch den Verdacht auf Unregelmäßigkeiten bei Parlamentswahlen.
Putin-kritische Minderheit
Heute wie damals seien die meisten jungen Russen zwischen 18 und 24 Jahren für Putin, sagt Gudkow. "Das ist die am meisten Putin-treue Bevölkerungskategorie", so der Soziologe. "Die wurde unter Putin sozialisiert und steht unter dem maximalen Einfluss der Bestrahlung mit Propaganda." Bidder fügt hinzu, dass es sich um eine von Eltern und Umgebung "erlernte Unterstützung" handele. Die politische Meinungsbildung sei bei vielen jungen Russen noch nicht abgeschlossen.
Eine kritische Minderheit gebe es nur in Großstädten, und auch diese habe sich erst neulich bei den Protestaktionen bemerkbar gemacht. "Nach ungefähren Schätzungen sind in ganz Russland rund 25 Prozent der Bevölkerung mit Putin unzufrieden, davon sind rund 10 Prozent Jugendliche", sagt Gudkow.
Gegen staatlich verordneten Patriotismus
Seit seinem ersten Amtsantritt im Jahr 2000 investiert Putin konsequent in die Jugendarbeit. Der Präsident trifft sich regelmäßig mit Jugendlichen in einem Sommercamp in der russischen Provinz. Kremltreue Bewegungen wie "Iduschtschije wmeste" ("Diejenigen, die zusammen gehen") oder "Naschi" ("Die Unseren") sorgten mit Straßenaktionen für Putin und gegen Oppositionelle für Schlagzeilen, bis sie still aufgelöst wurden. Der Publizist Bidder meint, dass der Jugendarbeit in Russland "eine durchdachte Strategie" fehle und Projekte wie "Naschi" "zu einem erheblichen Teil PR-Zwecke hatten". Die Aufgabe: den Präsidenten als jungen und dynamischen Politiker darzustellen.
Nach der Krim-Annexion versucht der Kreml immer stärker Patriotismus, den Putin zur nationalen Idee erklärte, mit militärischer Begeisterung zu verknüpfen. Diese Aufgabe hat seit 2015 die Bewegung "Junarmija" ("Die junge Armee"), die vom Verteidigungsministerium betreut wird. Ihr Zielgruppe sind Schüler. Die Kremlpartei "Geeintes Russland" berichtete im März über einen Gesetzentwurf, der patriotische Erziehung einheitlich machen soll.
Der Soziologe Gudkow glaubt, dass es dieser "staatlich verordneter Patriotismus" war, der unter anderem Schüler zu oppositionellen Aktionen wie im Juni motiviert hatte. "Das ist noch kein politischer Protest, sondern Ablehnung als Teil der jugendlichen Gegenkultur", so seine Einschätzung. "Die Krim-Euphorie und der Mobilisierungseffekt ebbt bei jungen Russen schneller als bei anderen Bevölkerungsschichten ab", ergänzt Bidder.
Auswanderung der Talentierten
Eine wirkliche Gefahr für Putin und seine mögliche neue Präsidentschaftskandidatur seien die jugendlichen Protestwellen nicht, darin sind sich Gudkow und Bidder einig. Dazu seien sie zu schwach und zu wenig politisch.
Und doch könnte die Stimmung unter Jugendlichen in den kommenden Jahren für das Land und damit auch für den Präsidenten zu einem Problem werden. "Ich habe in Gesprächen festgestellt, dass viele junge Leute, vor allem gut qualifizierte und sehr talentierte, nicht mehr die Chance sehen, ihr Potential in Russland zu verwirklichen", sagt Buchautor Bidder. Dabei seien es keine oppositionsnahen Aktivisten, sondern Menschen aus kremlfreundlichen Kreisen oder Mitarbeiter von Internet-Startups. Ein ehemaliger Führungskader der 'Naschi' habe es ihm so erklärt: "In China leben will ich nicht."
Den Isolationskurs und die Konfrontation mit dem Westen lehne dieser Teil der russischen Jugend offenbar ab. Die Konsequenz: Die einen wandern aus, die anderen denken zumindest darüber nach. Genau solche junge Russen, die besonders begabten und talentierten, trifft Putin nun in Sotschi.