Im Zweifel für die Wahlsieger
4. November 2002Es kam nicht anders als erwartet: Die angeblich gemäßigten Islamisten haben die Wahl eindeutig für sich entschieden Dabei haben sie nicht nur der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei von Deniz Baykal, die als einzige aller übrigen Parteien den Einzug ins Parlament geschafft hat, die Versen gezeigt. Vielmehr überraschten sie sogar die Meinungsforscher, die zwar einen ungefährdeten Sieg für die Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vorausgesagt hatten, nicht aber einen derart gewaltigen Vorsprung.
Im Zweifel und aus Respekt vor der demokratischen Mehrheitsentscheidung des türkischen Volkes muss Partei für die Wahlsieger ergriffen werden. Sie sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sind das Ergebnis von Korruption, Vetternwirtschaft, schwerwiegender Fehler der bislang regierenden Parteien und nicht zuletzt der Sehnsucht nach besseren Zeiten. Die enorme Arbeitslosigkeit, die seit vielen Jahren ungehindert davon galoppierende Inflation, die um sich greifende Verarmung und die fehlenden Hoffnungen auf schnelle Überwindung der Wirtschaftskrise haben zwangsläufig zu einem riskanten Manöver der Bevölkerung unter dem türkischen Halbmond geführt.
Abgesehen von der Diskussion darüber, wie von einer repräsentativen pluralistischen Demokratie gesprochen werden kann, wenn rund 45 Prozent der Stimmen unberücksichtigt bleiben, gibt es erstmals in der Türkei eine alleinverantwortlich handelnde islamistische Regierung ohne Abhängigkeit von Koalitionspartnern. Was an der AKP wirklich "gemäßigt" ist und welche populistischen Äußerungen im Wahlkampf tatsächlich in die Tat umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten. Ihre Mehrheit ist jedenfalls hart an der Grenze der für Verfassungsänderungen notwendigen Fraktionsstärke von 367 Sitzen.
Fest steht, dass der AKP-Chef Erdogan sich beeilte, zu erklären, dass er zu seinen Zusagen stehen werde. Diese bestanden in der Bekräftigung der Absicht, die Voraussetzungen für eine weitere Heranführung der Türkei an die EU zu schaffen und das Land aus der wirtschaftlichen Talsohle zu führen. Doch kann das alles einem Wahlsieger gelingen, der wegen Volksverhetzung in früherer radikal-islamistischer Zeit verurteilt und deshalb von der Kandidatur fürs Parlament ausgeschlossen worden war? Können andere Ziele wie die Modernisierung der Türkei im Rahmen einer islamisch-demokratischen Synthese mit Statthaltern erreicht werden, die sich untereinander noch nicht ganz einig sind?
Tatsache ist aber auch, dass die AKP aus dem Schutthaufen früherer islamistischer Parteien entstanden ist, die als "Zentrum fundamentalistischer Aktivitäten gegen die laizistische Grundordnung der Republik" reihenweise verboten worden waren. Auch über den Köpfen der AKP-Führer schwebt das Verbotsverfahren vor dem Verfassungsgericht.
Gemessen werden muss die AKP nicht an der Vergangenheit Erdogans und anderer früher durch fundamentalistische Aktionen aktenkundig gewordener islamistischer Politiker, sondern an ihren Entscheidungen. Das ist die faire Chance, die jede Partei verdient, die eine Wahl gewonnen hat. Die Europäische Union und die USA werden die Entwicklungen in Ankara mit besonderem Augenmerk verfolgen.
Derweil gibt es eine Macht, die sich vor einem erneuten Eingriff in die Demokratie nicht scheuen würde, um das Reformwerk und die Westorientierung des NATO-Staates notfalls erneut vor ihren Gegnern zu schützen: Die Armee. Ratsam wäre es jedoch nicht, wenn die Militärs den zweiten vor dem ersten Schritt täten und voreilig handelten. Ein Sturz der gewählten Regierungsmacht ohne Notwendigkeit wäre kein Plädoyer für den von den Generälen oft geäußerten Respekt vor Demokatie und Macht des Volkes. Den letzteren Begriff prägte kein geringerer als Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, dessen aus der Asche des Osmanischen Imperiums geformtes Werk erst vor einer Woche 79 Geburtstag feierte.