Im Schatten der Geschwister Scholl
16. März 2024Wenn vom Widerstand junger Leute gegen Hitlers Herrschaft die Rede ist, denken viele an die Studenten der „Weißen Rose“, vor allem an Hans und Sophie Scholl. Walter Klingenbeck ist dagegen weithin unbekannt geblieben. Dabei ist sein Lebenszeugnis nicht weniger eindrucksvoll. Nur einen Steinwurf von der Münchener Universität entfernt, in der Hans und Sophie Scholl ihr letztes Flugblatt in der Aula auslegten, war Walter Klingenbeck zuhause. Hier, in der Maxvorstadt, wurde er 1924 geboren. Am 30. März wäre sein 100. Geburtstag.
Während die Geschwister Scholl in einer gutbürgerlichen Familie aufwachsen, kommt Walter aus bescheidenen Verhältnissen. Sein Vater arbeitet als Straßenbahnschaffner. Die Klingenbecks sind überzeugte Katholiken. Schon früh engagiert sich Walter in der katholischen Jungschar seiner Pfarrei St. Ludwig. Dort begeistert der charismatische Kaplan Georg Handwerker die Jugendlichen. Aus seiner Gegnerschaft zu den Nationalsozialisten macht der Geistliche keinen Hehl. Im Religionsunterricht betet er für die verfolgten Juden.
Daheim hört Walter regelmäßig die Sendungen von Radio Vatikan. Dort ist die kirchenfeindliche Politik der NS-Führung immer wieder Thema. Als die katholische Jugendgruppe 1936 zwangsweise in die Hitlerjugend integriert wird, ist Walter empört.
Zu dieser Zeit engagieren sich Hans und Sophie Scholl, zum Leidwesen ihrer Eltern, noch mit Feuereifer in der HJ. Erst mit dem Krieg ändert sich ihre politische Einstellung.
1941 beginnt Walter Klingenbeck eine Lehre als Schaltmechaniker. Die Technik ist eine Leidenschaft des Jugendlichen. In der Ausbildung lernt er die gleichaltrigen Hans Haberl, Daniel von Recklinghausen und Erwin Eidel kennen. Sie alle sind überzeugte Katholiken und verabscheuen den Führerkult. Heimlich treffen sie sich zum Abhören sogenannter „Feindsender“. Obwohl im Krieg streng verboten, hören ungezählte Deutsche die regimekritischen Beiträge aus dem Ausland. Das allein aber reicht den Jungs in München nicht. Sie folgen der Aufforderung des deutschsprachigen Programms der Londoner BBC, Churchills „V“, für „Victory“ in Deutschland zu verbreiten. Und so pinseln Walter und seine Freunde nachts das „V“ mit schwarzer Ölfarbe an Dutzende Verkehrszeichen und Häuserwände, ja sogar an die Mauern einer SS-Kaserne!
Als Walters Plan scheitert, mit einem ferngesteuerten Modellflugzeug Flugblätter („Hitler kann den Krieg nicht gewinnen, nur verlängern!“) über der Stadt abzuwerfen, kommen sie auf eine andere Idee. Die Technikfreaks bauen einen Kurzwellen- und zwei Mittelwellensender auf, positioniert in einem Dreieck, um der Gestapo die Peilung zu erschweren. Ihren Nachrichtenkanal, mit dem sie Parolen gegen das NS-Regime senden, nennen sie „Radio Rotterdam“ - in Erinnerung an die von der deutschen Luftwaffe 1940 völlig zerbombte niederländische Hafenstadt.
Im Januar 1942 aber wird Walter Klingenbeck verhaftet. Bei einer Hausdurchsuchung findet die Polizei belastendes Material. Eine linientreue Geschäftsfrau hat den Jungen denunziert, weil Walter sich in ihrer Gegenwart kritisch zu Hitler geäußert hatte. Auch Walters Freunde kommen in Haft.
Am 24. September 1942 werden Walter Klingenbeck, Hans Haberl und Daniel von Recklinghausen vom Volksgerichtshof wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat und Schwarzsenden“ zum Tode verurteilt. Erwin Eidel bekommt acht Jahre Zuchthaus.
Im Februar 1943 fliegt auch die Widerstandsgruppe der „Weißen Rose“ auf. Der Volksgerichtshof macht kurzen Prozess. Noch am Tag der Urteilsverkündung werden Hans und Sophie Scholl im Gefängnis München-Stadelheim enthauptet.
Ein halbes Jahr später stirbt Walter Klingenbeck am gleichen Ort durch das Fallbeil. Er ist gerade mal 19. Eigentlich hätte er als damals noch minderjähriger „Straftäter“ nicht exekutiert werden dürfen. Doch der Blutrichter setzt sich darüber hinweg. Er attestiert dem katholischen Weltanschauungsgegner die kriminelle Energie eines Erwachsenen.
Die Todesurteile für Walters Mitstreiter werden in mehrjährige Zuchthausstrafen umgewandelt. Kurz vor seiner Hinrichtung am 5. August 1943 schreibt Walter Klingenbeck an seinen Freund Hans Haberl: „Lieber Johnny! Vorhin habe ich von Deiner Begnadigung erfahren. Gratuliere. Mein Gesuch ist allerdings abgelehnt. Ergo geht´s dahin. Nimm´s net tragisch. Du bist ja durch. Das ist schon viel wert. Ich habe soeben die Sakramente empfangen und bin jetzt ganz gefasst. Wenn Du etwas für mich tun willst, bete ein paar Vaterunser. Leb´ wohl. Walter.“1
Anders als bei der „Weißen Rose“ ist der Widerstand Walter Klingenbecks lange kaum gewürdigt worden. Während etwa Hunderte von Schulen und Straßen in Deutschland nach den Geschwistern Scholl benannt wurden, trägt nur eine Realschule in Taufkirchen bei München den Namen des tapferen Lehrlings. Nahe der Ludwigstraße, unweit des „Geschwister-Scholl-Platzes“ an der Universität in München, gibt es einen schmalen „Walter-Klingenbeck-Weg“.
Nun hat das Erzbistum München-Freising eine Kommission eingesetzt, die mit der Voruntersuchung für ein mögliches Seligsprechungsverfahren beauftragt wurde. Theologen, Juristen und Historiker beschäftigen sich intensiv mit dem kurzen Leben des jungen Märtyrers.
Gerade in einer Zeit des wachsenden Extremismus kann Walter Klingenbeck ein Vorbild sein - und das nicht nur für die junge Generation.
1: zit. nach: Deutscher Widerstand in der NS-Zeit. Praxis Geschichte. 2/2016, S. 40
Autor: Andreas Britz
Jahrgang 1959; Lehrer für Katholische Religion und Geschichte am Johann-Wolfgang-Goethe-Gymnasium im südpfälzischen Germersheim; Regionaler Fachberater für Katholische Religion an den Gymnasien und Integrierten Gesamtschulen in der Pfalz; seit 1996 Autor von Verkündigungssendungen im Auftrag des Bistums Speyer in SWR und Deutschlandfunk.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.