Günter Grass und die Vertriebenen
14. April 2015Das hört nicht auf. Nie hört das auf.
Mit diesen beiden Sätzen endet die Novelle "Im Krebsgang". Mit dem, was nach Ansicht eines Protagonisten im Buch nie aufhört, war rechtextremes Gedankengut gemeint. Grass war nicht der einzige Intellektuelle, der um die Jahrtausendwende mahnte und warnte, der seine Landsleute darauf aufmerksam machte, dass auch 50 Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus in Deutschland braunes Gedankengut weiterlebt.
Dabei war die Warnung vor dem Wiedererstarken der Rechten nicht Hauptintention des Textes. In der Novelle "Im Krebsgang" ging es um den Untergang des deutschen Schiffes "Wilhelm Gustloff" am 30. Januar 1945. Das ehemalige Kreuzfahrtschiff der Nazis war von einem sowjetischen U-Boot versenkt worden. Mehr als 9.000 Menschen ertranken in den eisigen Fluten der Ostsee. Der Untergang der "Wilhelm Gustloff" gilt nach Meinung vieler Experten als die größte Schiffskatastrophe der Neuzeit.
Die Tragödie literarisch verarbeitet
Die "Gustloff" war mit mehr als 10.000 Menschen an Bord im Ostseehafen Gotenhafen gen Westen aufgebrochen. Sie sollte wie andere zur Rettung der Deutschen eingesetzten Schiffe Menschen aus Ostpreußen vor der heranrückenden Sowjetarmee in Sicherheit bringen. An Bord waren verwundete Marine-Soldaten, Wehrmachtsangehörige, vor allem aber Zivilisten und viele Kinder. Da Soldaten an Bord der "Gustloff" waren und das frühere Kreuzfahrtschiff mit einem Tarnanstrich lackiert war, wurde der Beschuss durch die Sowjets später nicht als Kriegsverbrechen bewertet.
Um diese Schiffskatastrophe im Zentrum hat Günter Grass seine Novelle konstruiert. Verwoben mit einem Handlungsverlauf, der bis in die Gegenwart hineinreichte, ging es Grass vor allem um eines: Auf das Leid der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten aufmerksam zu machen, an deutsche Opfer in der Zivilbevölkerung zu erinnern. Gleichzeitig verknüpfte der Autor die Vertriebenen-Thematik mit dem Umgang der Deutschen mit der eigenen Geschichte in den Jahrzehnten nach dem Krieg.
Das Thema wurde den Rechten überlassen
Nicht um das Verdrängen des Holocaust ging es, sondern um das Verdrängen vor allem vieler Linksintellektueller, die sich nach Meinung von Grass nicht mit den deutschen Opfern befassen wollten.
Warum haben wir Deutsche so lange geschwiegen und uns nicht auch dem Leid der Vertriebenen zugewandt? Warum habe man das Thema durch dieses Verschweigen rechtsnationalen Kreisen und revisionistischen Vertriebenenverbänden überlassen, fragte Grass mit seinem Buch.
Auch wenn seit Erscheinen der Novelle nicht allzu viele Jahre vergangen sind - heute ist das Thema mitten in der Gesellschaft angekommen. Historiker haben sich in jüngster Zeit intensiv mit den deutschen Zivilopfern des Zweiten Weltkriegs beschäftigt. Bücher wie "Der Brand" von Jörg Friedrich, der sich mit den vielen Toten der Bombardements durch die Alliierten befasste, wurden zu Bestsellern. Große Fernsehfilme wie "Dresden" (2006) oder "Die Flucht" (2007) sahen Millionen Deutsche. 2008 folgte dann noch der aufwendige Fernsehzweiteiler "Hafen der Hoffnung - Die letzte Fahrt der 'Wilhelm Gustloff'".
Steckt in der Erinnerung an deutsche Zivilopfer eine Relativierung?
Immer haben diese Bücher und Filme auch zu hitzigen Debatten geführt. Darf angesichts von sechs Millionen ermordeten Juden, von Millionen durch deutsche Hand getöteten Russen, Polen oder Ukrainern überhaupt breit und ausführlich über deutsche Kriegsopfer erzählt werden, noch dazu literarisch und mit fiktiven Elementen verwoben? Oder ist die Fokussierung auf deutsches Leid nicht auch eine Art der Verdrängung deutscher Schuld? Wird mit einer "Gleichsetzung" von Opferzahlen nicht auch eine "Relativierung" betrieben - so wie es der große Historikerstreit der Jahre 1986/87 nach Meinung mancher Geschichtswissenschaftler vorgemacht hat?
Günter Grass befeuerte damals mit seinem Buch die Debatte, ja, er wurde zum Auslöser einer breit geführten Diskussion um die Vertriebenen. Grass war 2002 nicht der erste deutsche Schriftsteller, der sich literarisch der Vertriebenen-Thematik gewidmet hat. Auch Walter Kempowski, Hans-Ulrich Treichel, W.G. Sebald und Alexander Kluge hatten das Thema aufgegriffen. Aber Grass war ja nicht irgendwer. Drei Jahre zuvor hatte der Autor der "Blechtrommel" den Literaturnobelpreis bekommen. Grass war, bei aller Kritik von vielen Seiten, noch immer ein literarisches Schwergewicht.
Viel Kritik am Buch
Harsch fielen dann manche Reaktionen auf das Buch aus. Die "Süddeutsche Zeitung" giftete: "Günter Grass ist ausgezogen, den Leidschatz des deutschen Opfergedächtnisses zu heben, und er weiß, wo der größte Batzen liegt: in der Ostsee nördlich von Stolpmünde." Die "tageszeitung" bezeichnete "Im Krebsgang" als "oberflächliches Traktat" und "literarisch tapeziertes historisches Feature". "Die Zeit" ordnete den Text als "manchmal nervtötende, an Behäbigkeit grenzende Umstandskrämerei" ein.
Es gab auch positive Kritiken. "Die Welt" sprach vom "besten Grass seit Jahren" und lobte, "dass einer wie der des ostpopulistischen Revanchismus gänzlich unverdächtige Günter Grass sich des Gegenstandes annahm." Und "Der Freitag" gestand zu, dass "Günter Grass eine unverarbeitete Tragödie der Geschichte in all seinen widerstrebenden Facetten zur Sprache gebracht" habe. Das Buch verkaufte sich gut, wurde zum Bestseller, zum meistverkauften "Grass" seit langem.
Literarischer Weitblick
Als der Schriftsteller vier Jahre nach Erscheinen des Buches seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS bekannt machte, stand das gesamte literarische Oeuvre des Autors unter verschärfter Beobachtung. Es gab Stimmen, die die Rückgabe des Nobelpreises forderten. In Polen mahnten einige, Grass solle die Ehrenbürgschaft seiner Geburtsstadt Danzig entzogen werden. Dazu kam es nicht. Doch die Debatten um den Schriftsteller nahmen kein Ende. Grass blieb umstritten.
Auch das Thema der Vertriebenen, das er in "Im Krebsgang" aufgegriffen hatte, wurde wieder und wieder hitzig diskutiert. An diesem Dienstag (14.4.) überreichte die Schriftstellervereinigung PEN in Brüssel einen Aufruf "Schutz in Europa" an EU-Parlaments-Präsident Martin Schulz. In der Resolution geht es dezidiert um den Schutz von Kriegsflüchtigen. Günter Grass, bis zuletzt Ehrenpräsident des deutschen PEN, war mit diesem Thema seiner Zeit literarisch weit voraus.