Im Bademantel zur deutschen Einheit
11. September 2015Auf den Mauerfall folgte die deutsche Einheit – ein Vierteljahrhundert danach erscheint das manchem wie eine logische Konsequenz. Tatsächlich hätte sich im November 1989 kaum jemand träumen lassen, dass die Bundesrepublik und die DDR nicht einmal elf Monate später ein vereintes Deutschland sein würden. Denn auf dem Weg dorthin waren viele Hürden zu nehmen, vor allem auch außenpolitische.
Wer wüsste das besser als der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Gemeinsam mit anderen Zeitzeugen gab er in einer Feierstunde im Auswärtigen Amt in Berlin Einblick in die turbulenten Monate vor 25 Jahren. Monate, in denen er unermüdlich im Einsatz war. "Egal welchen Flughafen sie als Außenminister in der Zeit angeflogen haben, Prag, Washington, Warschau – Genschers Maschine war gerade dabei, wieder abzufliegen", erinnert sich Lord William Waldegrave, der 1990 Staatsminister im britischen Außenministerium war.
Große Vorbehalte
Genschers Umtriebigkeit hatte seinen Grund. Die Teilung Deutschlands war das Ergebnis des Zweiten Weltkriegs. Einen Friedensvertrag hatte es 1945 nicht gegeben, die deutsche Frage war ungelöst. Für eine vollständige deutsche Souveränität war deshalb die Zustimmung der vier Siegermächte nötig.
Allein die Amerikaner hatten keine Einwände gegen eine deutsche Wiedervereinigung. Ihre einzige Bedingung: Deutschland sollte Mitglied der NATO bleiben. In Paris und Moskau, vor allem aber in London sah die Sache schon anders aus. Vorbehalte hatten auch andere europäische Staaten, allen voran Polen, denen es um die Oder-Neiße-Grenze ging.
Was die Bundesregierung auf keinen Fall wollte, war ein später Friedensvertrag. Dann hätten alle Staaten mit am Tisch gesessen, mit denen Nazi-Deutschland zuletzt im Krieg gewesen war. Das waren deutlich mehr als 40 und so manche der beteiligten Regierungen hätten sicherlich auch laut über Reparationsforderungen nachgedacht.
Zwei-plus-Vier oder Vier-plus-Zwei?
Stattdessen nahmen die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik im März 1990 mit Frankreich, der Sowjetunion, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika Verhandlungen zu einem Staatsvertrag auf, der nach einigem Hin und Her "Zwei-plus-Vier-Vertrag" genannt wurde. "Zwei plus Vier bedeutete zwei Deutschlands, die sich vereinigten und die vier großen Mächte einluden", erinnert sich der französische Außenminister Roland Dumas, der, wie einige andere auch, den Vertrag lieber in umgekehrter Ziffernfolge benannt hätte. "Vier Mächte, die den Krieg gewonnen hatten, und die beiden deutschen Staaten einluden."
Inzwischen sei der Streit zwischen ihm und Hans-Dietrich Genscher aber lange begraben, so Dumas. "Ich freue mich, dass alles so ein Ende gefunden hat." Selbstverständlich war das nicht. Vor allem die britische Regierungschefin Margaret Thatcher tat bis zuletzt alles, um den Vertrag zu verhindern. "Es waren keine Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, sondern Zwei-plus-Fünf", klagt der britische Lord Waldegrave. "Frau Thatcher vertrat eine Meinung, die gegenläufig zur offiziellen Politik der britischen Regierung war. Für jene, die damals im Außenministerium aktiv waren, war es manchmal sehr schwierig, die Spannungen auszugleichen."
Britischer Querschuss
Bis zuletzt gab Thatcher nicht auf. Zwei Tage vor der am 12. September 1990 in Moskau geplanten, abschließenden Verhandlungsrunde hatten der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl sich telefonisch auf den besonders umstrittenen Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Bundesgebiet auf den Zeitraum bis Ende 1994 geeinigt. Ein Schlag für Thatcher, aber auch für die Franzosen, die bis dahin davon ausgegangen waren, dass die Wiedervereinigung wegen sowjetischer Bedenken erst in weiter Zukunft zustande kommen würde.
Als Hans-Dietrich Genscher am Abend des 11. September in Moskau aus dem Flugzeug stieg, "fröhlich und ohne Probleme, keine Akten studiert" und mit dem Gefühl, "morgen wird unterschrieben", kamen ihm seine voraus geflogenen Mitarbeiter mit "langen Gesichtern" entgegen. Aus London sei die Forderung gekommen, nach einer Wiedervereinigung müssten auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR militärische Manöver mit NATO-Truppen abgehalten werden dürfen.
Die Sache mit den Ohrenstöpseln
Genscher handelte noch am Abend mit seinem sowjetischen Kollegen Eduard Schewardnadse eine Protokollnotiz zum Vertrag aus, in der stehen sollte, "dass wir von dieser Regelung in einer Weise Gebrauch machen werden, dass damit die Interessen aller Beteiligten verantwortlich berücksichtigt werden", wie Genscher formuliert. Dazu gab der russische Präsident Michael Gorbatschow telefonisch sein Einverständnis, wenn auch mit Bedenken.
Doch damit wollte sich Thatcher nicht zufrieden geben. Bei einem Abendessen in der britischen Botschaft erfuhr der Bundesaußenminister "zwischen Suppe und Hauptgericht", die britische Seite bestehe darauf, dass die Manöver explizit im Vertrag erwähnt werden müssten. Für die Sowjets war das inakzeptabel. "Was macht man da?", fragt Genscher. "Zurück ins Hotel, Washington muss helfen."
Die Bademantelkonferenz
US-Außenminister James Baker hatte sich allerdings schon zu Bett begeben, "mit Ohropax", wie Genscher von der Delegation mitgeteilt wurde. "Wenn sie ihn nicht wecken, wecke ich ihn", habe der Bundesaußenminister darauf geantwortet. Es gab eine Krisensitzung "in nicht sehr kleidsamem, aber dem Ernst der Stunde angemessenen Schlafmantel", beschreibt Genscher das späte Treffen. Baker setzte tatsächlich durch, dass der Vertrag lediglich eine zusätzliche Protokollnotiz erhalten sollte, wonach Manöver nur unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion abgehalten werden sollten.
Unter den Augen des sowjetischen Präsidenten Gorbatschow wurde der Vertrag schließlich im Hotel "Oktjabrskaja", das heute "President" heißt, unterschrieben. Anschließend gab es halbtrockenen Sekt von der Krim und Genscher wie auch der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, der amtierender Außenminister war, steckten als Erinnerung den Füllfederhalter ein.
Die Bundesrepublik garantierte im Vertrag die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen, verzichtete auf den Besitz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen und stimmte der Reduzierung ihrer Streitkräfte auf höchstens 370.000 Soldaten zu. Im Gegenzug bekam Deutschland die volle Souveränität zurück.
Botschaft aus Moskau
25 Jahre liegt die Unterzeichnung zurück. Michael Gorbatschow hätte an der Feierstunde im Auswärtigen Amt gerne teilgenommen, ist aber gesundheitlich angeschlagen. Anatoly Adamishin, der als sowjetischer Vize-Außenminister an der Entstehung des "Zwei-plus-Vier-Vertrags beteiligt war, überbrachte Gorbatschows Grüße nach Berlin, aber auch eine mahnende Botschaft. "Verschleudern sie nicht das Positive, das wir in diesen Jahren aufgebaut haben", lasse Gorbatschow ausrichten. "Wenn wir das alles jetzt zerstreuen, dann wird es wahrscheinlich so sein, dass wir sehr, sehr lange Unerfreuliches in unseren Beziehungen werden ertragen müssen."
Eine Botschaft, die sich auf die Krise zwischen Russland und dem Westen bezieht und auf die auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier in der Feierstunde einging. "Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Russland – das entscheidend dazu beigetragen hat, die volle Souveränität seines Kriegsgegners Deutschland wiederherzustellen – nun die uneingeschränkte Souveränität der Staaten im post-sowjetischen Raum nicht ausnahmslos anzuerkennen scheint." Das könne so nicht bleiben, sagt Steinmeier. "Das widerspricht der europäischen Friedensordnung, wie Sie diese damals in Kraft gesetzt haben", fügte er an die Zeitzeugen gewandt hinzu.