"Ihr Einsatz, Herr Westerwelle"
14. Juni 2010Berliner Zeitung: "Die EU hat Kirgistan vergessen"
"Vor drei Jahren rühmte sich die Bundesregierung noch (...), dass während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 eine Zentralasien-Strategie für die EU entworfen worden sei. Die Seidenstraße solle neu belebt werden, fabulierte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Heute droht Kirgistan ein Bürgerkrieg. Die Russen warnen vor einer Spaltung des Landes, sie sorgen sich wegen einer möglichen Afghanisierung Kirgistans. Die Amerikaner schlagen Alarm. Nur aus Brüssel und aus Berlin, wo Außenminister Guido Westerwelle im Steinmeier-Nachlass auch die Zentralasien-Strategie vorgefunden haben muss, ist wenig zu hören. (...) Das liegt auch daran, dass die EU ihre eigene Zentralasien-Strategie schon längst wieder vergessen hat. Und mit ihr Kirgistan."
Neue Zürcher Zeitung: "Ein Land am Abgrund"
"Im Vordergrund steht jetzt die Frage, wie das Gemetzel und die Brandschatzungen in dem kleinen Land am Tian-Shan-Gebirge gestoppt werden können. Die provisorische Regierung in der Hauptstadt Bischkek scheint dazu nicht in der Lage. Aber wer, wenn nicht der kirgisische Zentralstaat, soll gegen die marodierenden Mörderbanden einschreiten? Russland hat bereits abgelehnt - der Kreml zählt Kirgistan zwar weiterhin zu seiner Interessensphäre, aber in einen komplexen ethnischen Konflikt im Ausland möchte er nicht hineingezogen werden. Aber auch die USA können der Destabilisierung Kirgistans nicht einfach zuschauen. Sie betreiben eine strategisch wichtige Militärbasis im Land. Wenn die überforderte Regierung in Bischkek keine Hilfe von aussen erhält, droht Kirgistan vollends in einem Strudel der Gewalt zu versinken."
die tageszeitung: "Ihr Einsatz, Herr Westerwelle!"
"Zentralasien brennt. Wer jetzt die Hände in den Schoss legt, macht sich schuldig. Es ist ein Gebot der Menschlichkeit, den mit dem Tod Bedrohten zu Hilfe zu eilen - und es ist sicherheitspolitisch unabdingbar. Wird das Feuer im Süden Kirgisiens nicht bald gelöscht und der Massenmord an der usbekischen Minderheit des Landes gestoppt, könnte die gesamte Region aus den Fugen geraten - mit unabsehbaren Folgen für den Afghanistankonflikt inklusive. Denn durch Zentralasien verläuft die nördliche Versorgungsroute für den Afghanistankrieg. Es gibt ein EU-Strategiepapier für Zentralasien, das 2007 unter deutscher Führung beschlossen wurde. Es wäre das Papier, auf dem es gedruckt ist, nicht wert, wenn Europa jetzt nicht Verantwortung zeigt. Die Krise im Süden Kirgisiens ist nur durch den Einsatz internationaler Truppen in den Griff zu bekommen. Denn die provisorische Regierung des Landes ist nach eigenen Angaben nicht in der Lage, dem Morden Einhalt zu gebieten. Nur mit einem robusten Mandat könnten die marodierenden Horden daran gehindert werden, weiter Tod und Zerstörung zu verbreiten."
Süddeutsche Zeitung: "Krieg um den Nachlass"
"Zerfällt Kirgistan, könnte die politische Architektur der ganzen Region erschüttert werden. Auch deshalb zögert Russland, ob es seine Truppen in dieses Pulverfass schicken will. Amerika verspricht ebenfalls keine Rettung. Washington hatte auf Druck des inzwischen verjagten Ex-Präsidenten Kurmanbek Bakijew aus Rücksicht auf den US-Luftwaffenstützpunkt im Land jeden Kontakt mit der Opposition vermieden. Nun sind die politischen Außenseiter an der Regierung - und denen traut Amerika nicht. Die kirgisische Tragödie ist mindestens so sehr ethnisch wie ökonomisch motiviert. Das Ende der politischen Herrschaft bedeutet hier nämlich auch Abschied von Ressourcen, Immobilien, Vermögen. Mit diesem Verlust haben sich Bakijews Anhänger noch nicht abgefunden. Die Ethnien des Landes dienen lediglich als Instrument dieser gezielt geschürten Unruhen. So hat die Korruption in Kirgistan einen Selbstzerstörungsmechanismus ausgelöst, den bislang niemand zu entschärfen weiß."
Frankfurter Allgemeine Zeitung: "Eskalation eindämmen"
"Die einzige Chance, der Eskalation der ethnischen Gewalt in Kirgistan Einhalt zu gebieten, ist vermutlich die rasche Entsendung einer von außen kommenden und deshalb neutralen Friedenstruppe. Für einen solchen Schritt gibt es gute Gründe - humanitäre wie realpolitische: Wenn die Gesetzlosigkeit im kirgisischen Teil des dichtbesiedelten, armen und ethnisch gemischten Fergana-Tals nicht schnell eingedämmt wird, ist die Gefahr groß, dass auch die Nachbarstaaten Tadschikistan und Usbekistan ins Wanken geraten. Im schlimmsten Fall könnte das Auswirkungen bis nach Afghanistan haben. Die Frage ist, ob es tatsächlich zum Einsatz von Friedenstruppen kommt. Russland hat nach einer entsprechenden Bitte der kirgisischen Übergangsregierung wenig Neigung gezeigt, sich auf ein derartiges Abenteuer mit ungewissem Ausgang einzulassen. Zudem ist die Tätigkeit russischer Friedenstruppen in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken bisher alles andere als segensreich gewesen, weil Moskau die Neigung hatte, sie im machtpolitischen Interesse auch destruktiv wirken zu lassen."
Autorin: Esther Broders
Redaktion: Thomas Latschan
Anm. d. Red.: Die Schreibweise des Landesnamens variiert und ist den jeweiligen Zeitungen entnommen