Hölderlin: Zwischen Hoffnung und Weltflucht
20. März 2020"Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch." Hölderlins Verse aus seiner 1803 vollendeten Hymne "Patmos" sind sprichwörtlich geworden, das zeigt sich gerade in diesen Corona-geplagten Zeiten. Menschen posten sie auf Facebook; die Schriftstellerin und deutsche PEN-Präsidentin Regula Venske zitiert sie, um zum 250. Geburtstag des Dichters darauf aufmerksam zu machen, wie sehr manche von Hölderlins Gedichten, etwa die Ode "Lebenslauf", nicht nur sie durch ein ganzes Leben begleitet haben.
Der "unbekannte" Dichter und Philosoph
2020 ist nicht nur Beethoven-Jahr. Am 20. März jährt sich auch der Geburtstag Johann Christian Friedrich Hölderlins zum 250. Mal. Mit mehr als 650 Veranstaltungen sollte der Poet im Laufe des Jahres europaweit gefeiert werden. Jetzt entfallen die meisten dieser Programme oder mussten wie die zum Geburtstag geplante Einweihung des Hölderlinschen Familienhauses in Lauffen am Neckar verschoben werden.
Was macht den schwäbischen Dichter jenseits der Gedenk-Routine und ein paar Kalendersprüchen, die sich angeblich besonders in China für Hochzeiten eignen, heute noch relevant? Der Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski hat sich mit den Dichterfürsten des frühen 19. Jahrhunderts auseinandersetzt, mit Goethe und Schiller - und zuletzt auch mit dem "großen unbekannten Dichter" Hölderlin. Er zeichnet die Geschichte eines Einzelgängers, der keinen Halt im Leben fand und als Dichter, Übersetzer, Philosoph, Hauslehrer und Revolutionär in zerreißenden Spannungen lebte. Erst das 20. Jahrhundert habe seine tatsächliche Bedeutung entdeckt.
Hauslehrerjobs statt Kirchenkanzel
Diese Zerrissenheit hat den 1770 in ein christliches Milieu Hineingeborenen schon früh geprägt. Pfarrer sollte er nach dem Wunsch seiner Mutter - der Vater war früh verstorben - werden, weshalb er die evangelischen Klosterschulen im württembergischen Denkendorf und Maulbronn besuchte und anschließend zum Studium der Theologie an die Universität Tübingen ging. Dort, am Tübinger Stift, begegnete er Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Schelling. Gemeinsam studierten die philosophischen Geister die aufklärerischen Schriften Kants und schwärmten für die Französische Revolution.
Um keine kirchliche Laufbahn einschlagen zu müssen, verdingte sich Hölderlin nach seiner Unizeit mit mäßigem Erfolg als Hauslehrer. 1794 lernte er in Jena Goethe und Schiller kennen - und floh vor dem übermächtigen Eindruck, den vor allem Schiller auf ihn machte. In seiner nächsten Hauslehrerstelle bei der wohlhabenden Familie des Bankiers Gontard in Frankfurt traf er die Liebe seines Lebens. Von Januar 1796 bis September 1798 konnte er der jungen Mutter seines Schülers, Susette Gontard, nahe sein, ehe ihr Ehemann die - wahrscheinlich nur platonische - Leidenschaft unterband. In seinem Briefroman "Hyperion", dessen erster Band in dieser Zeit erschien, idealisierte er Susette in der Gestalt der weisen Griechin "Diotima".
Liebe und Ideal
Nach der erzwungenen Trennung von der Geliebten spricht Hölderlin selbst in einem Brief an seine Mutter von seiner "Zerstörbarkeit". Zum Bruchpunkt seines Lebens wurde eine Fußreise nach Bordeaux, wo er eine neue Stelle als Hauslehrer antreten sollte. Auch von dort floh er und kehrte erst Monate später in verwahrlostem und verwirrtem Zustand nach Stuttgart zurück. Bis heute ist rätselhaft, was seine Verwirrung auslöste.
Nach Susette Gontards frühem Tod durch die Röteln 1802 gab sich Hölderlin ganz dem Dichten hin und schrieb einige seiner berühmtesten "Gesänge". Ab 1804 arbeitete er als Hofbibliothekar in Homburg, das Gehalt zahlte sein Freund Isaac von Sinclair aus eigener Tasche. 1805 geriet Hölderlin irrtümlich in den Sog eines Hochverratsprozesses gegen Sinclair und verfiel in eine Psychose. Er wurde mit der Diagnose "Wahnsinn und Raserei" in die Psychiatrie der Uni Tübingen verbracht und nach einem Dreivierteljahr als unheilbar entlassen.
Genie und Wahnsinn
Der Tübinger Schreiner Ernst Zimmer und seine Familie nahmen den verehrten Dichter in Obhut in einem Hausturm, der heute (in Normalzeiten), bekannt als "Hölderlinturm", ein beliebtes Touristenziel ist. "Der Hölderlin isch et verrückt gwä" - ins Hochdeutsche übersetzt: "Hölderlin war nicht verrückt" - stand jahrzehntelang als Graffito an diesem Turm. Wie stark geistig umnachtet der Dichter in den 37 Jahren, die er bis zu seinem Tod 1843 in seinem Turmzimmer oberhalb des Neckars verbrachte, tatsächlich war, lässt sich nicht mehr feststellen. In den 1970er Jahren vertraten linke Autoren die These, dass er nur simuliert habe, um sich von Problemen fern zu halten. 48 Gedichte sind aus den Turm-Jahren überliefert.
Fest steht, dass Genie und Wahnsinn bei Hölderlin in der Tat eng beieinander lagen. Er gilt mit seiner sprachlichen Radikalität, seiner Wucht und seiner Musikalität als einer der größten Lyriker der Weltliteratur. Viele seiner hymnischen Gedichte wurden vertont, von Johannes Brahms, Carl Orff und Komponisten unserer Zeit. Leben war für Hölderlin ein permanentes Auf-der-Suche-sein, ein Schwanken zwischen Hoffnung und Weltflucht. Das macht ihn auch heute noch modern.
Ein Dichter für die Krise - auch die Coronakrise
"Für mich ist Hölderlin bei aller Rätselhaftigkeit der größte Dichter deutscher Sprache", urteilt Regula Venske. "Zum Glück können wir uns seinen Gedichten heute unbefangen und offen nähern und sie lesen wie Musik, während er im 20. Jahrhundert ja leider von diversen einander widersprechenden und oftmals sich sogar bekämpfenden Zuschreibungen vereinnahmt wurde, von völkisch-nationalistischen bis hin zu marxistisch und antipsychiatrisch motivierten Interpretationen."
"Hölderlin war immer 'in', wenn sich Gesellschaften im Wandel und in der Krise befanden", meint der Historiker Reinhard Weber. Vielleicht sei das einer der Gründe, weshalb er gegenwärtig so beachtet werde. "Wir haben es heute wieder mit Unsicherheiten und Transformation zu tun, mit Widersprüchen und Konflikten. Solche Gefühlslagen greift Hölderlin auf, immer auch auf der Suche nach einer neuen Ganzheitlichkeit."
Der Mensch auf der Suche
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat Anfang März ein Gedicht von Hölderlin entstaubt, das er nie vollendet hat. Der Dichter notierte diese Ankerwörter für sein Gedicht "An meine Schwester" wahrscheinlich im Jahr 1800, gedacht als Trost für Schwester "Rike" kurz nach dem Tod des Schwagers. Das Fragment zeigt eines: Hölderlins Sprache, gerade in ihrer reduzierten Form, berührt auch heute noch. Denn die Suche nach Schönheit, Freundschaft und Freiheit, der sich der Dichter verschrieben hatte, bleibt ein Ideal auch für den modernen Menschen.
Übernacht' ich im Dorf / Abluft / Straße hinunter / Haus Wiedersehn. Sonne der Heimat / Kahnfahrt, / Freunde Männer und Mutter, / Schlummer.