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Human Rights Watch: Lage in Tschetschenien außer Kontrolle

13. August 2009

Nach dem Mord an der Menschenrechtlerin Sarema Sadulajewa ist das Risiko für Aktivisten in der Region nicht mehr tragbar. Tatjana Lokschina von HRW fordert im Gespräch mit der DW den Kreml zu Maßnahmen auf.

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Tatjana LokschinaBild: DW/Sergey Morozov

Deutsche Welle: Nicht einmal ein Monat ist seit dem Mord an der Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa vergangen, und nun diese Verbrechen an Sarema Sadulajewa und ihrem Ehemann Alik Dschabrailow.

Tatjana Lokschina: So zynisch es auch klingen mag, aber wir (die Kollegen von Natalja Estemirova – Anm. d. Red.) hofften, dass nach diesen fürchterlichen Ereignissen eine Pause eintritt. Aber sie ist ausgeblieben. Dabei muss man sagen, dass sich die Aktivisten der Organisation Save the Generation mit nicht so brisanten und für die Machthaber in Tschetschenien schmerzhaften Fragen befassten wie zum Beispiel Memorial. Save the Generation ist eine humanitäre Organisation. Sie half Kriegsopfern, Minenopfern - vor allem Kindern.

Natalja Estemirowa und Sarema Sadulajewa waren gute Bekannte, beide waren völlig unabhängig von den Machthabern, beide beugten sich nicht der Staatsmacht. Und jetzt sind beide tot.

Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt kann man mit absoluter Sicherheit nur sagen, dass die Lage in der Region völlig außer Kontrolle geraten ist und dass der Kreml irgendetwas unternehmen muss. Die russische Führung darf den Wahnsinn, der in Tschetschenien herrscht, einfach nicht mehr hinnehmen.

Es ist selbstverständlich, dass wir von der Staatsanwaltschaft Antworten fordern auf die Fragen, wer die Auftraggeber des Mordes an Sarema Sadulajewa und ihrem Ehemann Alik Dschabrailow sind, wer den Mord an Natalja Estemirowa in Auftrag gab. Wir erwarten Ermittlungen, und nur wenn die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden, dann wird dies ein Signal dafür sein, dass Bewegung in die Situation kommt. Wenn nicht zügig ermittelt wird, wenn die Schuldigen nicht zur Verantwortung gezogen werden, dann ist auch eine weitere Tätigkeit von Menschenrechtlern in Tschetschenien nicht möglich, da das Risiko zu groß geworden ist.

Könnte diese Serie von Morden an Menschenrechtlern eine Provokation gegen den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow sein? Letztendlich untergraben sie seine Position.

Das denke ich nicht. Aber, wie gesagt, es gibt sehr viele Fragen, auf die wir keine Antworten haben. Die Antworten erwarten wir von der ermittelnden Staatsanwaltschaft, wir erwarten effektive Ermittlungen.

Vor kurzem hat Kadyrow in einem Interview die Tätigkeit der ermordeten Menschenrechtlerin Estemirowa scharf kritisiert. Er nannte sie eine "Frau ohne Anstand und Ehre". Wie würden Sie das Verhältnis zwischen den Menschenrechtlern und den Machthabern in Tschetschenien beschreiben?

Das, was Herr Kadyrow über die ermordete Natalja Estemirowa sagte, entbehrt jeglichen Anstands. Vermutlich weiß Herr Kadyrow einfach nicht, dass man über Verstorbene nicht schlecht redet. Kadyrow selbst hat Memorial, den Leiter dieser Organisation, Oleg Orlow, wegen übler Nachrede verklagt. Kadyrow gibt vor, seine Würde, seine Ehre zu verteidigen. Offensichtlich denkt er nicht so weit, dass er selbst mit solchen Äußerungen über die verstorbene Natalja Estemirowa ihre Ehre und Würde mit Füßen tritt, ihre Familie und ihre Kollegen beleidigt.

Sind in Tschetschenien noch russische Menschenrechtler tätig? Memorial hat ja seine Arbeit eingestellt.

Seitdem Memorial seine Arbeit eingestellt hat, gibt es in Tschetschenien keine unabhängigen NGO’s mehr. Es gibt eine Reihe von tschetschenischen NGO’s. Ich bestreite nicht, dass sie auch wichtige Arbeit leisten, aber sie werden von den Machthabern kontrolliert. Sie dürfen sich mit weit zurückliegenden Verbrechen befassen, beispielsweise Verbrechen der föderalen Strukturen verfolgen. Aber die Verbrechen, die heute in Tschetschenien begangen werden, die Verbrechen, die die ermordete Natalja Estemirowa anprangerte, die sind für sie tabu. Sie dürfen kein Wort gegen Kadyrow, gegen seinen Machtapparat sagen. Unabhängige Menschenrechtsorganisationen gibt es in Tschetschenien nicht.

Autor: Wladimir Sergejew
Redaktion: Markian Ostaptschuk