Hinter den Kulissen des Krieges
23. September 2019Die bekannte Journalistin Marie Colvin, die mit ihrer auffälligen Augenklappe wie eine Ikone wirkte, starb im Februar 2012 in Homs, als sie über die Angriffe des syrischen Regimes auf die belagerte Enklave Baba Amr berichtete.
Die preisgekrönte "Sunday Times"-Reporterin wurde bereits zu Lebzeiten für ihren Mut gelobt. Die Bewunderung ihrer Person steigerte sich nach ihrem Tod sogar noch. Verschiedene Biografien und Filme loben ihre furchtlose Berichterstattung und ihre starke Persönlichkeit.
Ein Beispiel ist der in Berlin gezeigte Dokumentarfilm "Under the Wire". Der Fotojournalist Paul Conroy erzählt darin von seiner letzten Mission mit Colvin - gemeinsam mit weiteren Weggefährten Colvins wie Sean Ryan, damaliger Auslandsredakteur der "Sunday Times". Er war bei dem Angriff auf Baba Amr ebenfalls dabei und überlebte.
"Sie hatte diesen Eifer, über Gräueltaten in Kriegen zu berichten", sagt Sean Ryan, der als Gastredner beim Berliner Festival auftrat, im Interview mit der Deutschen Welle: "Sie glaubte, dass ihre Berichte als Abschreckung dienen könnten, und dass dadurch 'böse' Menschen vielleicht weniger grausame Dinge tun würden."
Anschläge filmen, während das Baby im Nebenraum schläft
Ein weiterer Film des Festivals beschäftigt sich mit Syrien: In der Hoffnung, die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zu erhalten, begann Waad al-Kateab schon früh, die Proteste in Aleppo als Bürgerjournalistin zu filmen. Sie erzählt ihre Geschichte in der Dokumentation "For Sama", dem Eröffnungsfilm des Festivals. In Zusammenarbeit mit al-Kateab führte Edward Watts Co-Regie.
Der Dokumentarfilm beginnt mit einem Angriff der syrischen Armee, bei dem die Menschen in einem Keller Zuflucht suchen. Die Mutter eines Kleinkindes nimmt ihre Kamera in die Hand, um die Ereignisse zu filmen, bittet andere Leute in dem Keller auf das Baby aufzupassen. Ihr Kind, Sama, das dem Film den Titel verleiht, bleibt zurück.
Als sich herausstellt, dass der Angriff größer als erwartet ausfällt, macht sich die Frau mit der Kamera Sorgen, was mit ihrem Kind passiert sein könnte. Waad al-Kateab hat ihren Film ihrer Tochter gewidmet.
Der Zuschauer fragt sich zunächst, warum sich ein Kleinkind inmitten des ganzen Chaos befindet. Waad al-Kateab erklärt in ihrem Film, was sie dazu motiviert hat, mit ihr in dieser gefährlichen Umgebung zu bleiben.
Der Film erzählt die Geschichte der jungen Frau seit Beginn der Aufstände in Aleppo. Sie und weitere Studierende hoffen zunächst auf die Revolution, und dass ihre friedlichen Proteste das Land von Assads diktatorischem Regime befreien können. Sie verliebt sich in ihren Mitaktivisten Hamza al-Kateab. Kurz darauf heirateten sie, Waad wird schwanger. Die beiden sind zu dieser Zeit zentrale Figuren der Protestbewegung in Aleppo.
Damals hoffen die Aktivisten noch auf ein "neues" Syrien, doch der Konflikt spitzt sich immer weiter zu. Als Arzt richtet Hamza ein provisorisches Krankenhaus in der Rebellenhochburg ein, während Waads Videoclips weltweit und millionenfach gesehen werden. Ihre Tochter Sama bei sich zu behalten, stärkte ihre Überzeugungen nur noch.
Von prominenten Auslandskorrespondenten zu Bürger-Journalisten
Von den hoffnungsvollen Demonstrationen der Syrer während des Arabischen Frühlings bis zu den brutalen Bombenanschlägen des Regimes, bei denen Kinder und unschuldige Zivilisten getötet werden, erinnert der Ablauf der Ereignisse in "For Sama" stark an jene in "Under the Wire".
Trotz seiner jahrelangen Erfahrung in Konfliktgebieten weist der Fotograf Paul Convoy in "Under the Wire" darauf hin, dass das, was er in Syrien gesehen habe, mit dem Begriff "Krieg" kaum noch umschrieben werden kann: "Es ist ein Blutbad." Auch die gewalttätigen Bilder in "For Sama" bestätigen seinen Eindruck.
Abgesehen von der gemeinsamen Thematik unterscheiden sich beide Filme nicht nur in ihrem Stil. Sie spiegeln auch die Entwicklung der Kriegsberichterstattung deutlich wider. Während sich "Under the Wire" mit einer bekannten Auslandskorrespondentin beschäftigt, deren Idealismus mit persönlichem Ehrgeiz verbunden ist, erzählt "For Sama" die persönliche Geschichte einer Aktivistin, die Bürger-Journalistin wird, um in ihrem albtraumhaften Alltag einen Sinn zu finden.
"For Sama" ist eindeutig das Ergebnis einer langen Arbeit am Montagetisch, in dem aus viel Rohmaterial eine starke, menschliche Geschichte geformt wurde. Das unterscheidet den Film deutlich von den Inhalten von sogenannten Bürger-Journalisten, bei denen es vor allem darum geht, schnell und effektiv aus einem Kriegsgebiet zu berichten. Sean Ryan betont, dass es für Redakteure bei dem angebotenen Material von Bürger-Journalisten oft schwierig sei, einzuschätzen, wie vertrauenswürdig die Quellen sind.
Eine weitere Schwierigkeit sieht der frühere Auslandsredakteur darin, dass Bürger-Journalisten nicht dieselbe globale Wirkung erreichen wie prominente Journalisten - was eindeutig eine der Stärken von Marie Colvin gewesen sei.
Ryan erinnerte in Berlin dabei an ein wichtiges Ereignis in Colvins Karriere. 1999 weigerte sie sich während des Osttimor-Konflikts in Indonesien, ein belagertes Gelände zu verlassen, in dem rund 1.500 Frauen und Kinder gefangen waren. UN-Beamte sagten später, dass Colvins internationale Berichterstattung maßgeblich zur Rettung dieser Menschen beigetragen habe: "Von diesem Moment an hatte sie das Gefühl, dass sie mit ihrer Arbeit nicht nur Zeugnis von Gräueltaten ablegt, sondern auch Leben retten kann", sagt Ryan.
Auch wenn ihre Berichterstattung in Osttimor auf der einen Seite als Inspirationsquelle für Journalisten gesehen werden kann, so hat der Tod von Marie Colvin und anderen Journalisten einige Nachrichtensender davon abgehalten, weiterhin Korrespondenten in bestimmte Konfliktgebiete zu entsenden. Dadurch riskieren viele Freiberufler ihr Leben. Sie müssen oft ohne den Schutz von etablierten Nachrichtenagenturen auskommen.
Über den Ausnahmezustand hinaus
Francesca Mannocchi, Co-Regisseurin von "ISIS, Tomorrow - The Lost Souls of Mosul", war ebenfalls auf dem Berliner "Human Rights Film Festival", um über ihre Arbeit zu sprechen. Bei einer Diskussionsrunde zur Arbeit in Konfliktgebieten gab sie Einblick in ihre Sicht der Kriegsberichterstattung.
Ihr Dokumentarfilm thematisiert die Situation in der irakischen Stadt Mossul nach der Niederlage der Terrororganisation "Islamischer Staat". Sie führt Interviews mit Kindern, die entweder vom IS angeworben wurden oder ihre Familien in dem Konflikt verloren haben. So wird deutlich, dass die Saat des Terrors in den Köpfen dieser Kinder (und der Witwen) noch präsent ist. "IS ist nur ein Logo", sagt Mannocchi. "Auch wenn der Name sich ändert, wird dieselbe Ideologie weiter fortgesetzt."
Mannocchi sagt, dass sie ihre persönliche Sicht auf Konfliktberichtserstattung geändert habe - nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen durch diesen Film: "Einer der Fehler unserer journalistischen Arbeitsweise ist es, dass wir die Kamera ausschalten, sobald der Konflikt vorbei ist", sagte sie gegenüber der DW.
"Alles in den Nachrichten wird immer als plötzlicher Notfall dargestellt, als wäre er aus dem Nichts gekommen, ohne irgendeine Verbindung mit der Vergangenheit und der Zukunft", sagt Mannocchi.
Mannocchi ist der Überzeugung, dass auch komplexe Nachkriegssituationen untersucht werden müssten, wenn man über die medialen Klischees hinausgehen will. Möglicherweise böte dies sogar eine Chance, um in der Politik wiederkehrende Fehler zu vermeiden. Mannocchi meint, dass die Medien die Komplexität der Themen vermeiden, indem sie ihrem Fokus auf "Notfälle" legen - und den Islamisten damit sogar einen Vorteil verschaffen: "Wann werden wir etwas aus der Vergangenheit lernen?" fragt sie.
Die Terroristen hätten sich einen Vorteil verschafft und verweist auf politische Entwicklungen, wie den Rückzug der USA aus dem Irak - ohne einen umfassenden Plan. Innerhalb von weniger als vier Jahren habe der IS eine Gemeinschaft von 20.000 Unterstützern aufgebaut.
"Als Journalistin versuche ich, diese Punkte zu verknüpfen", sagt Francesca Mannocchi. "Mein Ziel ist es nicht, einfache Antworten zu geben. Und: Ich möchte die gleichen Zweifel und Dilemmas vermitteln, die ich auch vor Ort erlebe."
Das "Human Rights Film Festival" in Berlin dauert noch bis zum 25. September 2019.