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Deutschland Türken

26. Oktober 2011

Baha Güngör kam als Kind nach Deutschland. Das ist nun 50 Jahre her. In Istanbul sprachen die Leute nur gut über Deutschland und die Deutschen. Und was fand der Junge vor? Wie waren die ersten Schritte in dem neuen Land?

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Bahaeddin Güngör, Leiter der Türkischen Redaktion im Porträt (Foto: DW)
Baha Güngör, Leiter der Türkischen Redaktion, erinnert sichBild: DW

"Du fährst nach Deutschland", hieß es immer wieder: "Deutschland ist gut, Deutsche sind unsere Freunde, Deutsche sind gute Menschen." Meine Klassenlehrerin, die Menschen in der Nachbarschaft, der Lebensmittelhändler: Sie alle sagten nur Gutes über Deutsche und Deutschland. Deutsche seien "Freunde", "fleißig" und "diszipliniert". Es gab Tage, an denen ich es kaum erwarten konnte, in das Land zu reisen - zu meinen Eltern, die schon seit drei Jahren dort lebten. Am 28. Oktober 1961 war es soweit. Meine Großmutter und ich brachen auf nach "Almanya". Die Abschiedsrunden in der Nachbarschaft hatten viele Tage gedauert. Ich küsste viele Hände von Erwachsenen, knuddelte die kleinen Kinder, verstand dabei nicht, warum so viele Erwachsene weinten. Im Alter von elf Jahren war mir noch nicht klar, dass es kein Zurück mehr geben würde.

Aufbruch nach "Almanya" und kein Zurück

Baha Güngör (li) mit seiner Familie vor der Abreise in Istanbul 1961 (Foto: DW)
Baha Güngör (li) mit seiner Familie vor der Abreise in Istanbul 1961Bild: DW

Auf dem Bahnsteig in Sirkeci, dem Kopfbahnhof auf der europäischen Seite des Bosporus, wo einst der Orient-Express mit seinen betuchten Reisenden ankam, verabschiedeten einfache Menschen ihre Angehörigen zum Arbeiten oder zum Studieren nach "Almanya". Wir hatten nicht viel Gepäck: zwei Koffer und zwei größere Beutel. Viele Menschen auf dem Bahnsteig hatten größere Becher, Karaffen, einige sogar kleine Eimer mit Wasser dabei. Diese sollten nach altem türkischen Brauch bei der Abfahrt dem Zug hinterher geschüttet werden, damit die Reise so einfach verläuft, wie sich das Wasser einen Weg durch ein Flussbett bahnt. Wir winkten bis zur Erschöpfung aus dem Zugfenster, meine Oma weinte, ich versuchte, sie zu trösten: "Oma, wir kommen ja bald wieder zurück!" Viele Jahre später sollte ich erfahren, dass an meinem Abreisetag das deutsch-türkische Anwerbeabkommen zur Unterschrift vorlag und erst drei Tage später, am Tag meiner Ankunft in Aachen, unterzeichnet werden sollte, um türkische Arbeitskräfte als Aufbauhelfer ins Nachkriegsdeutschland zu holen.

Erst als der Zug nicht mehr parallel zum Marmarameer fuhr und ins Landesinnere abbog, merkte ich plötzlich, dass Istanbul in immer weitere Ferne rückte. Ich wollte wieder zurück: "Oma, lass uns doch im nächsten Bahnhof aussteigen und wieder zurückfahren." Ihre Antwort war der Auslöser für meine Tränen, die während der dreitägigen Reise fließen sollten: "Nein, das geht nicht mehr. Wir können erst wieder in Deutschland aus dem Zug aussteigen."

Taxifahrt gegen Lokum

Türkischer Honig oder Lokum (Foto: AP)
Türkischer Honig statt Deutsche MarkBild: AP

Nach dem ersten Umsteigen in München Richtung Köln hatte ich mich meinem Schicksal ergeben und ließ mich nur noch treiben. Im Pendlerzug nach Aachen saßen grimmig schauende Menschen. Sie beäugten uns, als kämen wir von einem anderen Stern. An dem Platz vor dem Aachener Hauptbahnhof standen schwarze Autos mit buckligen Kofferraumdeckeln in Reih und Glied. Meine Oma und ich schleppten unsere Koffer und Beutel zu diesen Taxis. Einem der Fahrer zeigte sie einen Zettel mit der Adresse meiner Eltern. Der Mann aber machte das weltberühmte Zeichen für Geld, indem er Daumen und Zeigefinger aneinanderrieb. Doch wir hatten kein Geld mehr. Ich erinnere mich noch, wie der Taxifahrer mit den Schultern zuckte und sich abwenden wollte. Doch meine Oma gab nicht auf, hielt ihn am Arm und griff mit ihrer freien Hand in einen der Beutel. Sie holte eine kleine Schachtel "Lokum" heraus - türkischen Honig - und bot dem Taxifahrer ein Stück zum Probieren an. Er nahm die ganze Schachtel als "Fahrtgeld" - für eine Strecke, die weniger als zwei Kilometer lang war, der Schlawiner.

Deutsch lernen…

Baha Güngörs Schulklasse in Aachen 1963/1964 (Foto: DW)
Baha Güngörs Schulklasse in Aachen 1963/1964Bild: DW

Wegen nicht vorhandener Deutschkenntnisse in die vierte Klasse zurückversetzt, fand ich mich in der evangelischen Volksschule Annastraße wieder. Ich werde den Schulrektor, Herrn Großmann, nie vergessen. Als ich zum ersten Mal sein Zimmer betrat, sagte er herzerwärmend "Hoschgeldin, Efendi", was "Willkommen, mein Herr" bedeutet. Er konnte weitere türkische Wörter wie "yavasch yavasch, efendi", wenn ich mal wieder tobend durch die Flure raste: "Langsam, langsam, mein Herr".

Die Eltern der anderen Kinder luden mich immer wieder ein, damit ich mit ihren Kindern spielte. Die erste Nachhilfe in Deutsch gab mir Maria "Abla" (ältere Schwester). Sie war eine Schuhverkäuferin und mit einem Türken verheiratet. Sie brachte mir geduldig Deutsch bei und machte mich von leckerer feiner Kalbsleberwurst abhängig. Seit diesen Tagen esse ich sehr gerne Kalbsleberwurst - und mindestens einen halben Zentimeter dick auf der Brotscheibe, wie sie es mir beigebracht hatte.

… auch im Kino

Noch mehr Deutsch habe ich im Kino gelernt. Lieder, die in den dort gezeigten Filmen gesungen wurden, konnte ich schnell auswendig. Zudem ging ich zwei- bis dreimal in der Woche ins "Aki", das Aktualitätenkino. Für 70 Pfennig konnte man dort so lange im Saal bleiben wie man wollte. Mich interessierten vor allem die Fußballberichte und die Zeichentrickfilme.

Vom Lerner zum Lehrer

Baha Güngör (Mi) mit Kursteilnehmern 1974 an der VHS Aachen (Foto: DW)
Baha Güngör (Mi) mit Kursteilnehmern 1974 an der VHS AachenBild: DW

In wenigen Jahren konnte ich schon so gut Deutsch, dass ich in "Gastarbeiter"-Heimen übersetzte, den türkischen "Arbeitskräften" einfache deutsche Sätze für den Alltag beibrachte und bei Gerichtsverhandlungen oder auf dem Polizeirevier übersetzte. In den 70er Jahren wurde ich sogar "Dozent" im Fach "Deutsch als Fremdsprache" - an der Volkshochschule Aachen.

Seit dieser Zeit wandere ich zwischen "Türkiye" und "Almanya" ständig hin und her. Meine Heimat ist immer noch Istanbul, aber mein Zuhause ist das Rheinland. Denn die Deutschen waren stets gut zu mir. Nur schade, dass nicht alle Türken meine Erfahrungen gemacht haben und so denken wie ich.

Autor: Baha Güngör
Redaktion: Mirjana Dikic