Shoah-Überlebende antwortet mit High-Tech
27. Februar 2020"1933 fing die Nazizeit an, da war ich acht Jahre alt. Da haben die Leute Mut bekommen, einen zu beschimpfen - als Juden. Ich habe am Anfang gar nicht verstanden, dass das etwas Spezielles ist." Anita Lasker-Wallfisch legt den Kopf zur Seite, schaut die Betrachter an. Sie spricht mit fester Stimme: "Wir haben die deutschen Klassiker eingebläut bekommen, Sprachen gelernt, Musik gemacht. Das war der typische jüdische Haushalt von damals." In Breslau wuchs sie auf, "was damals Deutschland war, jetzt Polnisch ist und Wroclaw heißt".
Auf einem lebensgroßen Video-Bildschirm sitzt sie im Deutschen Technikmuseum Berlin den Besuchern in einem kleinen abgedunkelten Raum gegenüber. Sie blinzelt, dreht den Kopf, wippt mit dem Fuß. Wenn eine Frage ins Mikrofon gesprochen wird, ermitteln Spracherkennungsprogramme und Datenbankabfragen in Echtzeit passende Antwort-Videosequenzen und spielen sie ein. Das wirkt wie ein Dialog.
Erst war die Presse geladen, seit dieser Woche können Schulklassen der Stufen 8 bis 13 im Technikmuseum eigene Fragen an das interaktive Zeitzeugnis der Holocaust-Überlebenden richten. Voraussetzung: Sie kennen das Thema aus dem Unterricht und die Begegnung muss moderiert werden.
Die heute 94-Jährige Anita Lasker-Wallfisch überlebte als Cellistin im Mädchenorchester das Konzentrationslager Auschwitz und wurde 1945 von den Briten im KZ Bergen-Belsen befreit. Nach dem Krieg zog sie nach England, wo sie den Pianisten Peter Wallfisch heiratete und zwei Kinder bekam. Sie spricht seit vielen Jahren über ihre Erfahrungen, oft vor Schulklassen, 2018 vor dem deutschen Bundestag. Jetzt antwortet auch ihr Zeitzeugnis.
"Wir haben meine Eltern nie wiedergesehen"
Erinnert sie sich an die ersten Deportationen aus Breslau? Kurz ruckelt das Bild, dann antwortet Anita Lasker-Wallfisch mit einem tiefen Seufzer: "Ja." Es ist ganz still im Raum, als sie berichtet, wie ihrer Mutter, der Musikerin, und ihrem Vater, Rechtsanwalt und Notar, im April 1942 gerade 24 Stunden blieben, bevor sie sich zum Abtransport melden mussten.
"Wir wollten zusammenbleiben. Da hat mein Vater die weisen Worte gesagt: 'Bleibt. Ihr seid nicht auf der Liste. Wo wir hingehen, kommt man zeitig genug hin.' Da hat er wirklich recht gehabt. Wir haben meine Eltern nie wiedergesehen." Nach einem misslungenen Fluchtversuch kamen sie und ihre Schwester Renate zunächst ins Gefängnis, 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert.
Mehr als 1000 deutsche Fragen zu ihrem Leben und ihren Erfahrungen im NS-Terror hat die Cellistin im März 2019 eine Woche lang beantwortet - aufgezeichnet in einem Fernsehstudio ihrer Heimatstadt London. Vier Jahre zuvor hatte sie das schon einmal auf Englisch getan. Im Technikmuseum in Berlin läuft jetzt bis Juni die Testphase für das erste interaktive Zeitzeugnis der USC Shoah Foundation in deutscher Sprache.
Finanziert hat es die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ), das Verfahren ist aufwändig. Der Test soll dabei helfen, dass auf immer neu formulierte Fragen jeweils die am besten geeignete Antwort eingespielt wird. Je mehr Fragen gestellt werden, desto besser wird das Programm. Im Technikmuseum mit seinem vielfältigen Publikum will man eine breite Öffentlichkeit erreichen.
Interaktive Zeitzeugnisse, damit junge Menschen eigene Fragen stellen können
Fast 55.000 Video-Interviews mit Überlebenden des Holocaust und anderer Genozide in zahlreichen Ländern und Sprachen hat die von Regisseur Steven Spielberg gegründete Shoah Foundation seit Mitte der 1990er Jahre gesammelt - auch mit Anita Lasker-Walfisch. Das Ziel: Ihre Erfahrungen für spätere Generationen zu bewahren.
Doch wie können junge Menschen künftig eigene Fragen stellen? 2015 begannen die Aufnahmen für "Dimensions in Testimony": interaktive Zeitzeugnisse, die auf Fragen reagieren.
Hologramme für eine dreidimensionale Begegnung gibt es noch nicht. Es wurde aber schon mit Kameras aus allen Perspektiven gedreht, um für den Fall der Fälle auch eine 3D-Darstellung zu ermöglichen.
Die ersten Aufnahmen erfolgten auf Englisch, Spanisch, Russisch und Hebräisch. Die meisten der bisher 24 Zeitzeugnisse sind in Museen und Gedenkstätten in den USA verankert, zwei in Schweden, das spanische Zeitzeugnis im argentinischen Buenos Aires.
Das Zeugnis einer chinesischen Überlebenden des Nanking-Massakers - auf Mandarin - ist im dortigen Gedächtnisort zu erleben. Drei der Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben. Ihnen sei es wichtig gewesen, "dass Schüler auch in der Zukunft noch Fragen stellen können", sagt Karen Jungblut.
Weitere Aufnahmen auf Deutsch und in anderen Sprachen wie Polnisch, Schwedisch oder Italienisch seien dringend erwünscht: "Es ist eine Minute vor 12." Jungblut ist Director of Global Initiatives bei der USC Shoah Foundation, heute ein Institut der University of Southern California.
"Ich liege nicht im Massengrab"
Die Fragen für das deutsche Interview mit Anita Lasker-Wallfisch wurden mit Jugendlichen aus Deutschland erarbeitet. In den USA werde oft gefragt: "Haben Sie Hitler getroffen?", sagt Karen Jungblut. Das sei in Deutschland anders. Da frage man eher: "Was denken Sie über Deutschland?" oder "Haben Sie vergeben?"
Auf diese Frage antwortet Anita Lasker-Wallfisch im Berliner Technikmuseum: "Man kann weitergehen, aber vergeben? Wie kann man sowas vergeben?!" Ihre Stimme wird lauter: "Es ist nicht zu vergeben, was da passiert ist. Ich bin nicht der liebe Gott. Ich bin auch nicht vergast worden. Ich liege nicht im Massengrab. Ich habe nicht das Recht zu vergeben."
Auch wenn man genau weiß, dass das Video mit ihr aufgezeichnet wurde: Die Auschwitz-Überlebende ist in diesem Moment ganz präsent in dem kleinen Raum. Offenbar eine typische Erfahrung bei interaktiven Zeitzeugnissen. Viele Schüler, beobachtet Karen Jungblut, sagten nach den Begegnungen: "Ich habe mit einem Zeitzeugen geskypt." Befragungen belegen eine extrem hohe Aufmerksamkeit und emotionale Ansprache.
Eine ganze Woche lang im Fernsehstudio tief einzutauchen in die Traumata der NS-Verfolgung ist sehr belastend, selbst für Überlebende wie Anita Lasker-Wallfisch, die ihren Lebensabend damit verbringt, im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus immer wieder von ihren Erfahrungen zu berichten. Wenn man ihr interaktives Zeitzeugnis in Berlin fragt, warum sie immer noch ihre Geschichte erzählt, sagt sie, dass es natürlich anstrengend sei, "aber irgendwie ist es ein Pflichtgefühl".
Sie wisse aus vielen Reaktionen, wieviel wirksamer die Begegnung mit wirklichen Überlebenden sei als Einträge im Geschichtsbuch: "Ja, also Napoleon - und Holocaust - und die nächste Seite". Dann zitiert sie aus einem Schülerbrief: "Ich habe zum ersten Mal verstanden, was da passiert ist. Es war ja nebenan!"
Sie hoffe, sagt die Überlebende auf dem Bildschirm, "dass die Holocaust-Tragödie nicht vollkommen verschwinden wird in 100 oder 200 Jahren. Das war ein Tiefpunkt, den die Menschen erreicht haben, der, glaube ich, einzigartig war."