Hoffen auf Einkehr und Erleuchtung
21. Mai 2014Ein ganzer Ort hat sich in Schale geschmissen. Deutschland-Flaggen säumen die Straße zum DFB-Teamhotel, Banner werben mit der gastierenden Nationalelf, von großen Plakaten lächeln die besten deutschen Fußballer den Bewohnern und Besuchern entgegen. Als die deutschen Nationalspieler in der prallen Mittagssonne vor dem Hotel vorfahren, warten rund 100 Fans und winken ihnen freudig zu. Fast wirkt es dieser Tage, als liege die kleine Gemeinde St. Martin im Passeiertal gar nicht in Italien, sondern in Deutschland. Ein Ort im Nationalmannschaftsfieber.
"Toll!", findet es Konrad Pichler, dass die Deutschen hier sind. "Südtirol kennen viele, unser kleines Passeiertal kaum jemand. Das wird sich dank der deutschen Mannschaft nun ändern", hofft Pichler, der gemeinsam mit seinen beiden Schwestern in vierter Generation ein kleines Hotel im Ort betreibt. Die Ankunft der Stars im noblen Fünf-Sterne-Hotel nebenan ließ er sich natürlich nicht entgehen. Als stellvertretender Kommandant der örtlichen Feuerwehr bereitete er den DFB-Aufenthalt mit vor, organisierte Absperrungen und zeigt jetzt mit einem Lächeln auf den neuen Stolz der Gemeinde: "Einen nagelneuen Fußballplatz haben wir seit zwei Monaten. Der Rasen kommt sogar aus Deutschland", berichtet der Gastwirt.
Lange Saison - noch längere Verletztenliste
80.000 Euro soll der Trainingsplatz nach Informationen lokaler Medien gekostet haben, 500.000 Euro lassen sich demnach die Gemeinden des Passeiertals und der Tourismusverband das Trainingslager der deutschen Nationalmannschaft kosten. Konrad Pichler hält den ganzen Aufwand um den zehntägigen DFB-Besuch für absolut lohnenswert. "Wir hoffen auf eine nachhaltige Wirkung und dass in Zukunft mehr Menschen ins Passeiertal reisen werden."
Gut 3000 Menschen leben hier, für 99 Prozent von ihnen ist Deutsch die Muttersprache, Italienisch hört man hier kaum. Doch nicht nur deshalb fühlt sich der DFB hier wie zuhause. Schon bei der WM 1990 in Italien gastierte die deutsche Elf in Südtirol und kam seitdem stets gerne wieder. Dieses Mal fiel die Wahl auf das beschauliche Passeiertal. Umringt von den noch schneebedeckten Ötztaler und Sarntaler Alpen, bietet die Region eigentlich alles, was sich der Bundestrainer wünscht: mediterranes Klima, alpine Kulisse und vor allem Ruhe. Drei Wochen vor dem WM-Auftakt will Joachim Löw seine Elf in der Abgeschiedenheit des Passeiertals Kraft tanken lassen. Die Saison war lang, die Liste der Verletzungen bei den Nationalspielern noch länger.
Lahm und Neuer bleiben vorerst in München
"Ich bin zuversichtlich, dass wir die Zeit optimal nutzen werden. Ich kann versprechen: Wir werden gut vorbereitet sein. Ich freue mich auf jede Trainingseinheit", sagte Löw kurz vor dem Trainingslager und wollte damit wohl auch so etwas wie Aufbruchsstimmung erzeugen. Die braucht die Nationalelf dringend. Denn weiter sind viele Spieler angeschlagen - oder fehlen überraschend.
Kapitän Philipp Lahm laboriert seit dem DFB-Pokalfinale an einem Bluterguss im Sprunggelenk und reiste entgegen der DFB-Planung gar nicht an. Er muss sich an diesem Donnerstag in München weiteren Untersuchungen unterziehen, bevor die Entscheidung fällt, wann er wieder ins Training einsteigen kann. Ähnlich ungewiss ist die Situation bei der deutschen Nummer 1: Der ebenfalls seit dem Pokalfinale an einem Kapseleinriss am rechten Schultereckgelenk leidende Manuel Neuer muss Arm und Schulter ruhig stellen - was für einen Torwart Arbeitsunfähigkeit bedeutet. Obwohl zu Beginn der Woche Fotos von Neuer mit einem Arm in der Trageschlaufe Fans und Öffentlichkeit aufschreckten, ist man beim DFB noch gelassen: Neuer soll in ein paar Tagen noch ins Trainingslager nachkommen, ebenso wie Lahm.
Vaterfreuden bei Per Mertesacker
Nationalmannschafts- und FC-Bayern-Arzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt pendelt daher gerade zwischen Südtirol und München hin und her, wie DFB-Sprecher Jens Grittner erklärte und die Journalisten über eine weitere ungeplante Abwesenheit informierte: Verteidiger Per Mertesacker fehlte ebenfalls zum Trainingslagerauftakt, jedoch aus weit weniger dramatischen, sondern schönen Gründen - er ist zum zweiten Mal Vater geworden und weilt noch bei seiner Familie. Mertesacker soll am Donnerstag nachreisen. Da sich der im Formaufbau befindliche Sami Khedira bei Real Madrid noch Hoffnungen auf einen Einsatz im Champions-League-Finale macht, bezogen vorerst nur 23 Spieler ihr Quartier in St. Martin.
Die setzte Löw zum Auftakt aufs Mountainbike, ließ sie eine kleine Runde rund um den Ort kurbeln - die nahen Bergpässe Timmelsjoch oder Jaufenpass standen dabei zum Glück für die DFB-Kicker nicht auf dem Programm. Der Gipfel der Form soll schließlich noch kommen, am 16. Juni, wenn Deutschland im ersten Gruppenspiel auf Portugal trifft.
Wenn Luxus nicht gut genug ist
Deshalb liegt der Schwerpunkt in den ersten Tagen des Trainingslagers eher auf der Regeneration. Ideal dafür scheint das Hotel gewählt zu sein: Etwas oberhalb von St. Martin thront das Luxus-Ressort Hotel Andreus inklusive Golfplatz und Pool auf dem Dach. Doch der serienmäßige Luxus reichte dem DFB offenbar nicht: "Es ist alles anders, es ist nichts mehr wie es war", umriss Hotelchefin Helga Fink gegenüber der ARD den Aufwand, den die Luxusherberge vor der Anreise des 95-köpfigen DFB-Trosses betrieb und die komplette Anlage buchte. "Wir haben einen anderen Rhythmus und andere Arbeitszeiten. Es ist eine Herausforderung."
Auf der Hotelterrasse steht übrigens eine große strahlend-weiße Buddha-Statue. Im Buddhismus hat sie eine klare Funktion: Sie soll den Betrachter zur Ruhe kommen lassen und ihm so Einkehr und Erleuchtung ermöglichen. Beides sicher ganz im Sinne von Joachim Löw.