Hitchcock in frischen Farben
1. Oktober 2012Natürlich ist das Kino immer noch der beste Ort, um sich in "Vertigo" an die Fersen von James Stewart zu heften, und mit ihm durch die Straßen von San Francisco zu schweben. Ebenso klar ist es, dass die ganze schockierende Kraft des Angriffs der Vögel in Hitchcocks filmischem Alptraum auf großer Leinwand am besten wirkt. Doch "Vertigo" und "Die Vögel" nun erstmals in bester Qualität zu Hause auf einem großen TV-Bildschirm zu erleben, kann auch zum Erweckungserlebnis werden.
Zum 100. Geburtstag des amerikanischen Filmstudios "Universal" erscheint in diesen Tagen eine Box mit 14 Filmen des Meisters, und wer Augen und Ohren hat, der wird staunen. Man bekommt ja nicht mehr gerade häufig die Gelegenheit, die großen Filme Hitchcocks im Kinoalltag an dem Ort zu sehen, für den sie ursprünglich produziert wurden. Deshalb sind die digital aufgerüsteten Versionen für den kleinen Bildschirm unbedingt zu begrüßen. Für ein heranwachsendes Publikum, das Hitchcock bisher möglicherweise noch gar nicht wahrgenommen hat - und für diejenigen, die von dem Regisseur gar nicht genug bekommen können.
Ein Meister des Visuellen
Einen Hitchcock-Film zu sehen, heißt immer: das Kino in seiner reinen Form anschauen. Hitchcock war ein Meister der visuellen Inszenierung. Diese an sich banale Aussage kann nicht oft genug wiederholt werden. Es gibt auch heute nicht viele Regisseure, die so inszenieren können wie der Brite. Wenn man sich fragt, warum zumindest einige filmische Arbeiten Hitchcocks auch nach Jahrzehnten nichts von ihrer Frische verloren haben, dann fällt einem ein ganzes Bündel an Antworten ein. Zwei davon sollen hier gegeben werden.
Die unnachahmliche Mischung verschiedener Genrezutaten: Schauen Sie sich die erste Stunde des Films "Die Vögel" an, nicht die spektakuläre zweite Hälfte, in der das Chaos über den kleinen Küstenort hereinbricht. In den ersten Sequenzen, in denen sich Tippi Hedren und Rod Taylor in einer Vogelhandlung kennen lernen und in der sich anschließenden Reise der Protagonistin zum Haus des Anwalts, wird dies besonders deutlich. Der Film ist hier fast mehr Komödie als Drama. Aber natürlich wird dem Zuschauer auch in diesen heiteren Szenen - durch Hitchcocks komplexes Zeichensystem - schnell klar, dass der Film auf etwas ganz anderes hinsteuert als auf eine Screwball-Comedy. Das ist in seiner Verschränkung von sich anbahnendem Horror und Heiterkeit, Schrecken und Erotik meisterhaft inszeniert: unterhaltsam und sensibel in Szene gesetzt, aber auch direkt und schroff, immer voller Überraschungen.
Souveräner Blick aufs eigene Werk
Ein zweites Beispiel: In "Vertigo" gibt es eine Szene, mit der Hitchcock sich ganz plötzlich aus dem ungeheuer dramatisch inszenierten Geschehen für einen Moment erhebt und zu sagen scheint, "Hey Freunde, es ist nur ein Film, schaut, wie künstlich das doch alles ist". In dieser Sequenz präsentiert die schwesterliche Freundin von James Stewart, Barbara del Geddes, dem heimlich Angebeteten ein selbstgemaltes Bild. Das Originalbild spielt innerhalb der Filmhandlung eine durchaus wichtige Rolle.
Das nachgemachte Gemälde nun ist geradezu lächerlich schlecht gemalt und karikiert sowohl die dramatische Handlung als auch den mystischen Subtext des Films. Der Zuschauer muss unweigerlich schmunzeln. Wie Hitchcock hier - nur für einen Moment - innehält im dramatischen Geschehen, wie er Melodrama und Komödie verschmelzt, das zeugt von großer Souveränität. Und das Beste daran: es wirft das Publikum nicht aus der Bahn. Nach dieser kurzen Szene verfolgt man das Drama sofort wieder mit angehaltenem Atem.
Ein anderer Grund für die Frische der Filme auch nach vielen Jahren, ist die Sorgfalt, mit der Hitchcock Nebencharaktere darstellt. Schauen wir wieder auf "Die Vögel". Die einzelnen Besucher der Gaststätte, in der sich Tippi Hedren vor dem Angriff der Tiere aufhält, die Mutter des männlichen Helden, dessen ehemalige Freundin, die Dorfschullehrerein, all das sind Nebenfiguren, die mit einer eigenen individuellen Geschichte, einem liebevoll ausgemalten Lebensweg, ausgestattet werden. Das Arsenal an Randfiguren bei Hitchcock sorgt nicht selten für Witz und abgründigen Humor, für einen Reichtum an glaubhaften Filmcharakteren abseits der Hauptfiguren.
Die gelungene und souveräne Verschränkung verschiedener Genreelemente sowie der Umgang Hitchcocks mit seinen Nebendarstellern sind nur zwei Elemente, die mitverantwortlich dafür sind, dass viele Filme des Regisseurs im Laufe der Jahre kaum Patina angesetzt haben. Man könnte noch andere nennen. Den Einsatz der unnachahmlichen Musik seines Hauskomponisten Bernard Herrmann, den behutsamen dramaturgischen Aufbau seiner Spannungsgeschichten, der geschickte Einbezug des Publikums in die Handlungsräume seiner Filmszenarien (vielfach als Suspense beschrieben).
Manches hat Patina angesetzt
Nicht alle der 14 jetzt digital aufbereiteten Filme Hitchcocks haben die Zeit gut überstanden. Sein letztes Werk "Familiengrab" ist mit seinen sperrigen Gesprächsblöcken zu Beginn des Films recht langatmig. "Rope", das Experiment, auf das Hitchcock so stolz war, weil er die komplette Filmhandlung in einer Einstellung drehte (mal abgesehen davon, dass die damalige Dauer einer Filmspule nur zehn Minuten betrug), ist nichts anderes als abgefilmtes Theater. Anderen Alterswerken wie "Topas" und "Der zerrissene Vorhang" sieht man die Entstehungszeit allzu deutlich an. Da ist auch die nun wieder erreichte Bild- und Tonqualität ein schwacher Trost.
Doch auch in diesen Nebenwerken funkelt und leuchtet es immer wieder, einzelne Szenen sind meisterhaft und einfallsreich inszeniert. Die großen Filme, von "Vertigo" über "Das Fenster zum Hof", von "Die Vögel" bis zu "Der Mann, der zuviel wusste", bleiben Monolithen der Filmgeschichte. Auch für heutige Zuschauer bieten sie eine "Schule des Sehens".
Alfred Hitchcock. 14 Filme in einer Box DVD, seit dem 27.09.2012 bei Universal erhältlich (DVD), die BluRay-Ausgabe erscheint am 01.11.2012. In den Boxen sind enthalten: 15 Stunden Bonusmaterial, darunter Dokumentationen und Interviews.