"Wie kann man optimistisch sein?"
16. Mai 2018Deutsche Welle: Bei Zusammenstößen zwischen Palästinensern und der israelischen Armee sind nach palästinensischen Angaben mindestens 60 Palästinenser getötet und rund 2800 verletzt worden. Was bedeutet diese Entwicklung für den ohnehin schwierigen Friedensprozess?
Moshe Zimmermann: Der Friedensprozess hat mit der Zahl der Toten und Verletzten kaum etwas zu tun. Es geht um die Bereitschaft auf beiden Seiten, miteinander zu verhandeln. Es scheint, als ob es im Hintergrund einen Versuch der Annäherung zwischen Israel und der Hamas gäbe. Anders kann man nicht erklären, dass plötzlich die Demonstrationen abflauten und auch die Schießfreudigkeit des israelischen Militärs nachließ.
Sie sagen, es gibt einen Versuch der Annäherung - wer vermittelt denn zwischen den Fronten?
Da braucht man nicht nur Vermittler, sondern auch die Bereitschaft beider Konfliktparteien, sich anzunähern. Die Hamas hat nicht mehr viele Freiräume, auch wegen dem Druck der eigenen Bevölkerung in Gaza. Und Israel versucht, die Lage im Süden des Landes nicht weiter zu verschärfen. Die israelischen Ortschaften entlang der Grenze zu Gaza werden ebenfalls Druck auf die israelische Regierung ausüben. Das heißt: Beide Seiten haben ein Interesse daran, eine neue Regelung zu schaffen.
Außerdem sind auch arabische Staaten involviert, vor allem die Ägypter. Darüber hinaus gibt es selbstverständlich auch die Bemühungen der USA, der Europäer und der Russen, zur Beruhigung der Lage beizutragen. Alles in allem gibt es eher Interesse, die Lage zu befrieden, als sie weiter eskalieren zu lassen.
Spielt Deutschland auch eine Rolle in dieser Gemengelage?
Eher als Teil der Europäischen Union, nicht so sehr als eigenständiger Akteur.
Denken Sie, dass sich die deutsche Regierung zu sehr zurückhält?
Die Parole der deutschen Außenpolitik lautet, dass sie sich wegen der Schoah mit Kritik an der israelischen Politik zurück halten muss. Das ist eine falsche Schlussfolgerung. Unsere Geschichte lehrt uns doch gerade, dass man sich einsetzen sollte. Wenn die jetzige Regierung weniger liberal, demokratisch und gewillt ist, eine friedliche Lösung zu finden, dann muss sich Deutschland umso mehr bemühen, den Weg für Frieden und Offenheit zu ebnen. Wenn die deutsche Politik zwischen den wahren Interessen Israels und den Interessen der jetzigen israelischen Regierung und Politik unterscheidet, dann kann man sich konstruktive Kritik durchaus erlauben.
Würde so eine konstruktive Kritik denn überhaupt Gehör finden?
Ich bin ja Israeli und ich weiß, dass mit dieser Regierung kaum etwas zu erreichen ist. Sie ist stur, eindimensional, nationalistisch und reagiert nicht auf Kritik aus dem Ausland. Sie hört nur auf Lob und Unterstützung. Trotzdem muss man versuchen, dagegen zu steuern.
Haben die ganzen Entwicklungen der vergangenen Wochen die Hamas gestärkt?
Nicht gegenüber Israel, nein. Die Hamas ist im Vergleich zu Israel ein Zwerg - rein militärisch gesehen. Aber wenn man sich die Hamas und die Autonomiebehörde anschaut, dann wurde die Hamas gestärkt.
Die Zusammenstöße kommen in einer Zeit, in der Israel im Syrienkonflikt involviert ist. Da wird doch eine Lage, die ohnehin schon komplex ist, noch komplexer, oder?
Die Lage ist komplex, weil der Kampf in Syrien noch nicht entschieden ist und weil sich die Iraner in diesem Kampf als Teil der Machtkonstellation in Syrien etablieren. Aber die Situation für Israel ist sowieso kompliziert: Die Hisbollah im Norden von Israel und im Libanon ist eine echte Herausforderung. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit der Türkei.
Aber, das muss man auch sagen, diese komplizierte Situation ist für die israelische Regierung sehr günstig: Israels Premier Netanjahu vermutet ja sowieso überall eine israelfeindliche Haltung und bekommt dafür jetzt die Bestätigung. Je mehr Feinde, umso besser. Und da die israelische Militärmacht stark genug ist, kann man damit leben und meidet - das ist sehr wichtig für Netanjahu - die Friedensgespräche mit den Palästinensern und auch den Rückzug aus den besetzten Gebieten. Das ist Netanjahus Ziel.
Was meinen Sie: Welche Rolle spielt die Entscheidung der Amerikaner, ihre Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, bei den Zusammenstößen?
Die Proteste hingen hauptsächlich mit den Gedenken an Israels Staatsgründung vor 70 Jahren zusammen, die gleichzeitig 70 Jahre palästinensische Katastrophe sind, auch Nakba genannt. Das war der Grund für die Demonstrationen und die Auseinandersetzungen. Dazu kam dann noch die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem. Die Stadt ist ein wichtiges Symbol in der muslimischen Welt und auch darüber hinaus. Trump ist ein Brandstifter und wenn er noch Öl ins Feuer gießen kann, tut er das.
Bleiben Sie optimistisch, was die Zukunft betrifft?
Nein. Wie kann man optimistisch sein? Wenn man die israelische Regierung, die Palästinenser und die Lage in der Region kennt, dann muss man mindestens mittel- und kurzfristig pessimistisch sein. Aber ich bin bereit, optimistisch zu denken: In 100 Jahren wird es besser sein!
Moshe Zimmermann ist ein israelischer Historiker mit deutschen Wurzeln. Seine Eltern stammten aus Hamburg und flohen 1937 in das britische Mandatsgebiet Palästina. Zimmermann spezialisierte sich unter anderem auf deutsche Sozialgeschichte, bis zu seiner Emeritierung 2012 war er Direktor des Richard-Koebner-Zentrums für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Auch in Deutschland lehrte Zimmermann für mehrere Jahre als Gastprofessor, unter anderem in Heidelberg, Kassel und München.
Das Interview führte Naomi Conrad.