Nobelpreis für Literatur an Olga Tokarczuk
10. Oktober 2019Eine Überraschung ist das nicht. Olga Tokarczuk stand schon auf den Favoritenlisten einiger Wettbüros. Ihr Name war auch in den Vorjahren immer wieder genannt worden, als vor der Preisverkündung in Stockholm kräftig über die kommenden Preisträger spekuliert wurde. Olga Tokarczuk ist ein Aushängeschild in Sachen polnische Literatur - ihre Werke wurden in alle Weltsprachen übersetzt. Von der Ehre erfuhr sie in Deutschland, wo sie sich gerade auf Lesereise für ihren jetzt in Deutsch übersetzten Roman "Die Jakobsbücher" (2014) befindet: "Literaturnobelpreis! Sprachlos vor Freude und Rührung" war ihre erste Reaktion auf die Auszeichnung, die ihr nun am 10. Dezember in Stockholm überreicht wird. Tokarczuk bekommt den im vergangenen Jahr ausgefallenen Preis, Peter Handke den Literaturnobelpreis für 2019.
Olga Tokarczuk ist auch im deutschen Sprachraum gut bekannt
In Deutschland kennt man den Namen gut, zumindest in der Literaturszene, bei den Leserinnen und Lesern. Über ein halbes Dutzend ihrer in Polnisch geschriebenen Bücher liegen hierzulande in Übersetzung vor. Gleich mehrere Verlage können sich freuen, sind Tokarczuks Bücher in den vergangenen Jahren doch bei verschiedenen Verlagshäusern erschienen. Und auch Filmliebhabern ist der Name geläufig, spätestens seit im Februar 2017 bei den Berliner Filmfestspielen "Die Spur" im Wettbewerb um den Goldenen Bären lief: Der mystisch-geheimnisvolle Film ihrer Landsfrau Agnieszka Holland über Umwelt-, Tierschutz und Feminismus ist eine Literaturverfilmung von Tokarczuks Roman "Der Gesang der Fledermäuse" (2009).
Und wie kann man die Literatur der frisch gekürten Nobelpreisträgerin nun einordnen? Das ist nicht ganz einfach. Sie hat Romane geschrieben, Kurzgeschichten, Essays, Reisebeschreibungen und auch Lyrik. Doch alle Genrebeschreibungen ihrer Bücher stoßen schnell an Grenzen. "Ur und andere Zeiten" hieß im Jahre 2000 der deutsche Titel ihres Romans "Prawiek i inne czasy" (1996), der sie schlagartig auch im Ausland bekannt machte. Es ist ein Roman, vereint aber phantastische Momente ebenso wie historische Elemente, durchbricht herkömmliche Zeit- und Raumordnungen.
Erzählkosmos mit vielen Facetten: Olga Tokarczuk
Das wurde zu einem Markenzeichen dieser Autorin. In dem Roman geht es um ein fiktives ostpolnisches Städtchen, das von den vier Erzengeln bewacht wird. Die Bewohner: skurrile Protagonisten, alte und junge, die auch für Urtypen stehen. Und auch die erzählte Zeit bietet zweierlei: einerseits ganz Konkretes, das Romangeschehen setzt im Jahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ein, erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte und spiegelt polnische Geschichte.
Andererseits aber erweitert Olga Tokarczuk schon hier den Erzählkosmos ins Märchenhafte, Mythos steht gleichberechtigt neben Historie, Phantastisches neben höchst Realem. Die Autorin verschmilzt Zeit und Raum - was sich auch in Stil und Ästhetik widerspiegelt. Eine nüchtern-realistische Erzählerin ist die polnische Schriftstellerin nicht. Bei ihr kommen stets auch Leserinnen und Leser auf ihre Kosten, die von Literatur mehr erwarten als ein realistisch zu Papier gebrachtes Abbild der Welt und ihrer Bewohner.
Das Unbewusste als steter literarischer Begleiter im Werk Tokarczuks
Wenn man ihre Werke aus ihrer Biografie herleiten will, dann gelangt man schnell in die Jugend der Autorin. In Warschau hatte die 1962 im niederschlesischen Sulechów bei Zielona Góra geborene Olga Tokarczuk Psychologie studiert. Der Schweizer Carl Gustav Jung, Psychiater und Begründer der psychoanalytischen Psychologie, war dabei zu einem ihrer Hauptinteressensgebiete geworden. Den von C.G. Jungs ergründeten Urstrukturen des menschlichen Verhaltens, verborgen im Unbewussten, begegnet man in so manchen Büchern der polnischen Schriftstellerin.
1993 erschien in Deutschland auch ihr literarisches Debüt "Die Reise der Buchmenschen". Ein Buchmensch ist diese in den vergangenen Jahren vielfach ausgezeichnete Autorin wahrlich. Nach Abschluss ihres Studiums hatte sie zunächst in einem Heim für Jugendliche und als Therapeutin gearbeitet. Später dann gründete sie einen Verlag - und begann zu schreiben. Das wurde dann zu ihrer Haupttätigkeit.
Olga Tokarczuk gewährt dem Leser Einblick in die Tiefenschichten der menschlichen Psyche
Wie die Menschen in ihrem Inneren funktionieren, damit hatte sie sich also in ihrem Studium beschäftigt. Doch nicht alles lässt sich herleiten, erklären, definieren. Da musste die Kunst oft helfen, in Olga Tokarczuks Fall die Literatur. So verschaffen ihre Bücher Einblicke in das Seelenleben ihrer Protagonisten, aber auch in tiefere, manchmal kaum zu erklärenden Schichten des Unbewussten. Religiöse Motive spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Märchen der Menschheits- und Literaturgeschichte.
Olga Tokarczuk sich nun als eine vergeistigte, allein in der Welt der Literatur lebende Autorin vorzustellen, würde allerdings auf eine vollkommen falsche Spur führen. In den vergangenen Jahren hat sie sich oft zu Wort gemeldet, wenn es um gesellschaftliche und politische Geschehnisse und Veränderungen in ihrer Heimat ging.
Als Erfolg für Polen begrüßte Kulturminister Piotr Tadeusz Gliński die Auszeichnung seiner Landsfrau. Dies sei ein Beweis für die Hochachtung polnischer Kultur in der ganzen Welt. Staatspräsident Andrzej Duda sprach von einem großen Tag für die polnische Literatur. Und EU-Ratspräsident Donald Tusk outet sich als ausgesprochener Tokarczuk-Fan: Er habe alles von Anfang an gelesen, teilte Tusk mit.
Olga Tokarczuk: Kritische Begleiterin polnischer Zeitgeschichte
Tokarczuk hatte sich in der jüngeren Vergangenheit allerdings nicht nur Freunde in den politischen Lagern auf der konservativen Seite gemacht. Die Schriftstellerin hatte sich vielfach engagiert und eingemischt. Im vergangenen Jahr zum Beispiel gegen die umstrittene Justizreform der konservativ-nationalistischen Regierungspartei PiS, in der Kritiker wie eben Tokarczuk auch, eine Hinwendung zu undemokratischen Entwicklungen sah.
Zuvor war Tokarczuk auch gegen das ebenso umstrittene Holocaust-Gesetz der Regierung vorgegangen. Gemeinsam mit anderen polnischen Kulturschaffenden sahen sie in dem Gesetzeswerk eine Einladung zur Geschichtsfälschung, bei der zum Beispiel die Rolle ihrer polnischen Landsleute während des Zweiten Weltkriegs geschönt werden könnte.
"Spiel auf vielen Trommeln" (2001) wurde ein Band mit Erzählungen im Jahre 2006 von ihrem damaligen deutschen Verlag betitelt. Olga Tokarczuk ist zweifelsohne eine große Schriftstellerin, die es versteht auf vielen Gebieten zu glänzen: als Kommentatorin des politischen Zeitgeistes, vor allem aber als feinnervige Erzählerin von Rang. Dafür wurde ihr jetzt der Literaturnobelpreis verliehen.