Historie und Hightech an der Wiege Europas
25. März 2002Die Geschäfte bleiben geschlossen, der rote Teppich ist ausgerollt. Fernsehkameras und Männer mit Knopf im Ohr, wohin das Auge fällt: Hoher Staatsbesuch ist in der Stadt! Die Menge jubelt, die Politiker winken, der deutsche Kanzler schmunzelt. Jährlich im Frühsommer herrscht Ausnahmezustand in Aachen. Denn dann vergibt die alte Kaiserstadt ihren Karlspreis an Männer und Frauen, die sich um Europa besonders verdient gemacht haben.
Der Karlspreis
Winston Churchill, Jacques Delors, Vaclav Havel, nicht zu vergessen die Kanzler Kohl und Adenauer - die Liste der Preisträger liest sich wie ein Ausschnitt aus dem "Who is who" der Europapolitik. Offensichtlich geht es dabei um mehr als eine Urkunde, eine Medaille und das symbolische Preisgeld von 5000 Mark. Denn mit dem Karlspreis hat sich die Stadt Aachen nicht nur die bekannteste europäische Auszeichnung ausgedacht. Der Karlspreis ist für Aachen, was für München das Oktoberfest ist und für Bayreuth die Festspiele. Denn zur Preisverleihung verwandelt sich Aachen für einen Tag im Jahr in das Zentrum Europas, das es zuletzt vor 1200 Jahren war.
Die Kaiserstadt Aachen
Damals herrschte Karl der Große über Europa. Aachen war die Hauptresidenz des Kaisers, das Zentrum seiner Macht und somit die "Wiege Europas". Zwar hatte Karls Projekt "Europäische Einheit" keinen Bestand, wohl aber das steinerne Zeugnis dieser großen Idee: der Aachener Dom. Deutschlands erstes Weltkulturerbe ist ein monströses Meisterwerk gotischer Baukunst und bis heute Pilgerstätte für Touristen aus aller Welt. Rund herum wurde die Zeit in Form von liebevoll hergerichteten Altstadtgassen konserviert, ist aber nicht stehen geblieben. Denn ebenso stolz wie auf ihre kaiserliche Vergangenheit sind die Aachener auf ihre zukunftsweisende Mission als "Hightech-Schmiede" und europäische Modellregion.
Grenzenloser Gründerboom
Aken, Aquisgrán, Cáchy, Aix-la-Chapelle - viele Europäer kennen Aachen, freilich unter den unterschiedlichsten Namen. Was unter dem Etikett "Europäische Region", kurz "Euregio", immer wieder Politiker zu Lobenshymnen über Deutschlands "internationalste Stadt" anspornt, ist für viele Aachener längst liebgewonnene Gewohnheit: Sie wohnen in Deutschland, arbeiten in Holland, gehen in Belgien Essen und Einkaufen. Alltag im Dreiländereck Deutschland-Belgien-Niederlande - dazu gehören auch ein bunter Sprachen-Mix, Shoppingtrips nach Köln und Düsseldorf, Brüssel oder Amsterdam, und Buslinien, die wie selbstverständlich Landesgrenzen kreuzen.
Früher bedeutete Aachens Lage am westlichen Zipfel Deutschlands Provinzialität. Mittlerweile hat sich das internationale Umfeld für die 250.000-Einwohner-Stadt als Lebenselixier herausgestellt: Binnen weniger Jahre sind auf der grünen Wiese und in den stillgelegten Bergwerken und Maschinenhallen der Region junge Technologieunternehmen wie Pilze aus dem Boden geschossen. Sie sind Produkt jenes Gründerbooms, der die "Euregio" erfasst hat.