Hilfsorganisationen in Gaza unter Druck
10. August 2016Die Anklage des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet gegen den Palästinenser Waheed Borsh wiegt schwer: Der Ingenieur soll Gelder aus dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen genutzt haben, um die radikalislamische Hamas bei dem Bau eines Anlegestegs für deren Seestreitkräfte zu unterstützen. Borsh habe außerdem Tunneleingänge und Waffenverstecke der Hamas absichtlich übersehen. Der Geheimdienst wirft dem UN-Mitarbeiter darüber hinaus vor, in einer hauptsächlich von Anhängern der Hamas bewohnten Gegend bevorzugt Häuser wiederaufbauen zu lassen.
Harmlos erscheinen diese Vorwürfe im Vergleich mit den Anklagepunkten, die gegen Mohammed el-Halabi erhoben wurden. Schin Bet beschuldigt den Einsatzleiter der christlichen Wohltätigkeitsorganisation World Vision in Gaza, 60 Prozent des Budgets für die Hamas abgezweigt zu haben. In einem weiteren Fall steht ein Mitarbeiter von Save the Children am Pranger des Geheimdiensts, der angeblich zur Hamas gehören soll.
Nachdem die Vorwürfe laut wurden, versprachen alle drei Nichtregierungsorganisationen, der Ursache für die Beschuldigungen auf dem Grund zu gehen und in Zukunft alle Arbeitsabläufe genau zu beobachten.
Laxe Kontrollen der Hilfsorganisationen?
Die 1,8 Millionen Einwohner Gazas leben unter der Führung der Hamas, einer palästinensischen Organisation, die von den USA, der EU und Israel als terroristisch eingestuft wird. Um Lebensnotwendiges kümmert sich die Gruppierung, die seit 2006 im Gazastreifen die Regierung stellt, kaum - und durch die vollständige Abriegelung Israels ist das Leben dort noch elender geworden. Wo die Hamas versagt, springen internationale Hilfsgruppen ein und versorgen die Palästinenser mit Nahrung, Lernmaterialen und Medizin.
Einige Israelis sehen sich nun in in ihrem Verdacht bestätigt, dass wohlmeinende Hilfsorganisationen nachlässig mit Kontrollen und Überwachungen ihrer Mitarbeiter umgehen.
Der ehemalige Schin Bet-Direktor Avi Dichter behauptete in einem Interview mit Israel Radio, die Anzahl Angestellter, die im Auftrag der Hamas für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) arbeiteten, liege "fast bei 100 Prozent". Die internationale Spendengemeinschaft sei "schrecklich naiv", fügte er hinzu.
Das Kind und der Bettler
Emmanuel Nahshon, Sprecher des Außenministeriums, brachte eine Karikatur in Umlauf, die ein Kind und einen älteren Bettler in Gaza abbildet. Darauf ist ein Behältnis für Spenden zu sehen, das mit einem Schacht verbunden ist, der unter die Erde führt. An dessen Ende steht ein maskierter Mann, der das Geld bunkert. Auf die Frage hin, ob es für Hilfsgruppen möglich sei, Gaza zu unterstützen, ohne die Hamas zu unterstützen, erklärt Nahshon, dies würde "bessere Kontrolmechanismen der Geldflüsse und deren Gebrauch" erfordern.
Gerald Steinberg, der Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation NGO Monitor, einer pro-israelischen Gruppe, die Unterstützungsleistungen an Palästinenser beaufsichtigt, rief Hilfsorganisationen dazu auf, Überwachungs- und Geheimdiensttechnologien zu verwenden, um die Arbeit ihrer Mitarbeiter ständig nachvollziehen zu können. Steinbergs Organisation ließ in einer Stellungnahme verlauten, dass Gelder an die Hamas durchsickerten, "kommt teilweise durch fehlenden Willen zustande".
Überwachung und Kontrolle
Im Zuge der aktuellen Entwicklungen gab das US-Außenministerium an, seit 2012 1,4 Milliarden Dollar an Organisationen in Gaza und im Westjordanland gezahlt zu haben. Um zu verhindern, dass die Gelder für terroristische Zwecke genutzt werden, überwache man die zuständigen Mitarbeiter und arbeite eng mit der israelischen Regierung zusammen, hieß es aus Washington.
Hilfsorganisationen geben ihrerseits an, alle Arbeitabläufe intensiv zu kontrollieren. Oxfam, eine Entwicklungsorganisation, die Wasser, Lebensmittel und landwirtschaftliche Unterstützung für die Einwohner von Gaza bereitstellt, erklärte, sie führe "rigorose Kontrollen durch, damit die Unterstützung, die wir leisten, bei den Menschen ankommt, die diese am meisten benötigten".
Eine Sprecherin von World Vision erklärte, die Wohltätigkeitsorganisation überwache ihre Mitarbeiter intern und habe nun zusätzlich externe Berater angestellt, um selbst diese Abläufe zu überprüfen. Bis die Untersuchungen abgeschlossen sind, haben Deutschland und Australien ihre Zahlungen an Gaza-Hilfsprogramme ausgesetzt. World Vision selbst hat sein Engagement in Gaza vorrübergehend eingestellt. Die Organisation betonte indes, dass die Geldmittel, die el-Halabi abgezweigt haben soll - der Vorwurf lautet auf 30 Millionen Dollar über fünf Jahre - das Budget seiner Gaza-Stelle für ein Jahrzehnt übersteige.
"Wir haben alle Verwandte"
Mohammad Mahmoud ist der Anwalt des angeklagten World-Vision-Mitarbeiters Mohammed el-Halabi. Er bestreitet israelische Behauptungen, el-Halabi habe zugegeben, ein Mitglied der Hamas zu sein. El-Halabi habe den Ermittlern lediglich erklärt, dass die bewaffneten Kräfte der Hamas aus dem Lager der Wohltätigkeitsorganisation beschlagnahmten, was immer sie wollten - und dass die Hamas den Gazastreifen nun mal kontrollierte.
Der Politikwissenschaftler der Al-Azhar-Universität in Gaza-Stadt mutmaßt, die Hamas müsse nicht einmal Gewalt anwenden, um Hilfslieferungen zu beschlagnahmen. Die Gruppe sei in der Region tief verwurzelt. Der DW erzählt er: "Wir haben alle Verwandte, Freunde oder Nachbarn, die Mitglied bei der Hamas sind. Und manchmal tun die Leute eben einen Gefallen."