Hilferuf aus Afghanistan: Frauen und Kinder in Not
29. Oktober 2023Die Nächte werden kälter und die Sorge vor ansteckenden Krankheiten wächst. In den Zeltlagern leben viele Menschen eng beieinander und warten dringend auf humanitäre Hilfe. Laut Angaben des UN-Koordinierungsbüros für humanitäre Angelegenheiten (OCHA) sind mehr als 154.000 Menschen von einer Serie von Erdbeben betroffen, die im Oktober die westliche Provinz Herat in Afghanistan verwüsteten. Lokalen Medienberichten zufolge haben mehr als 2000 Menschen ihr Leben verloren und Tausende wurden verletzt.
"Die Verletzten, darunter viele Frauen und Kinder, benötigen dringend medizinische Unterstützung", erklärt Niloufar Nikseyar im Gespräch mit der DW. Die ehemalige Dozentin der Universität in Herat unterstützt seit Anfang Oktober freiwillig lokale Selbsthilfegruppen. "Ich war heute in drei kleinen Dörfern, wo viele Häuser vollständig zerstört wurden. Dort sind bereits erste Hilfsgüter wie Mehl und Wasser eingetroffen. Die Frauen müssen mit den begrenzten Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, Brot backen und ihre Familien versorgen. Hier fehlt es an allem, insbesondere an Kindermilchpulver, Hustensaft oder Damenbinden", fügt sie hinzu.
Gesundheitskrise wird sich verschärfen
Ersten Einschätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge wurden mehr als 40 Gesundheitseinrichtungen in der Region durch die Beben beschädigt. Andere Gesundheitseinrichtungen sind weiterhin akut einsturzgefährdet, was die Patientenversorgung erheblich erschwert. Laut der WHO sind nun mehr als 114.000 Menschen in Afghanistan auf dringende medizinische Nothilfe angewiesen. Darunter sind etwa 7500 schwangere Frauen, von denen viele Familienmitglieder verloren haben.
"Viele von ihnen befanden sich zu Hause als die Erde bebte, während die Männer draußen auf den Höfen arbeiteten oder Vieh versorgten", erzählt Lina Haidari, eine andere Aktivistin vor Ort im Gespräch mit der DW. Haidari ist Lehrerin und unterstützt die heimischen Frauen, die von Erdbeben betroffen sind. Nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) waren mehr als 90 Prozent der Opfer der Erdbeben in Afghanistan Frauen und Kinder. Unter den Verletzten sind auch viele kleine Kinder und Frauen, die schwer traumatisiert sind und nun Angst vor weiteren Erdstößen haben, betont Haidari.
Internationale Hilfsorganisationen wie das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) warnen, insbesondere angesichts des bevorstehenden Winters, vor einer Verschärfung der Lage. "Wir bitten dringend um zusätzliche Mittel zur Unterstützung von 96.000 Kindern", sagt Unicef. Die Organisation hat eigenen Angaben zufolge mehr als 80 Tonnen medizinische Hilfsmittel in die betroffene Region geliefert, die am 23. Oktober in der Hauptstadt Kabul angekommen sind.
Keine Wahl außer sich auf die Taliban zu verlassen?
Die regierenden Taliban haben eine Kommission eingerichtet, um Hilfsgüter gerecht unter den Betroffenen zu verteilen. Zabiullah Mujahid, Sprecher und hochrangiges Mitglied der Taliban, betonte im Gespräch mit der DW, dass diese Kommission dafür verantwortlich sei, sicherzustellen, dass jeder die benötigte Hilfe erhält und Korruption vermieden wird. Viele Aktivisten, sowohl innerhalb als auch außerhalb Afghanistans, hegen jedoch Zweifel, ob die Taliban in der Lage sind, diese Krise zu bewältigen. Besonders diejenigen außerhalb des Landes sind verzweifelt und wissen nicht, wie sie ihre Verwandten und Freunde vor Ort unterstützen können.
"Es ist notwendig, dass wir Wege finden, um Menschen vor Ort zu helfen", sagt Zahra Joya im Gespräch mit der DW. Die afghanische Journalistin lebt in London und ist Chefredakteurin und Gründerin von Rukhshana Media, einer Nachrichtenagentur, die über das Leben von Frauen und Mädchen in Afghanistan berichtet. "Vor allem Frauen und Kinder brauchen nun unsere Unterstützung. Wir versuchen vor Ort Vertrauensgruppen zu bilden und Hilfe für sie zu organisieren." Direkt Geld zu überweisen sei nicht möglich. Seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan dramatisch verschlechtert. Aufgrund von Menschenrechtsverletzungen haben die USA Wirtschaftssanktionen gegen die Taliban verhängt. Das Land wurde aus dem internationalen Finanztransaktionssystem SWIFT ausgeschlossen. Die Folgen: Überweisungen aus dem In- und Ausland sind nicht mehr ohne weiteres möglich.
Viele Menschen nutzen bis jetzt Wechselstuben, in denen Bargeld hinterlegt wird, das dann von einem Geschäftspartner in Afghanistan ausgezahlt wird. Solche Transaktionen können abseits offizieller Kanäle lediglich durch eine Telefonverbindung und gegenseitiges Vertrauen durchgeführt werden. Derzeit funktioniert das jedoch nicht, berichten die Aktivisten in Hintergrundgesprächen mit der DW. "In Afghanistan ist Bargeld knapp geworden. Aber auch mit Bargeld können viele Dinge nicht mehr gekauft werden, wie zum Beispiel Kindermilchpulver". Tausende von Menschen, traumatisiert oder verletzt, haben nun keine andere Wahl, als sich auf die Taliban zu verlassen.