Herzen voller Kummer: HIV-Epidemie am Ural
24. November 2018Der Wind dringt bis in die Knochen. Passanten ziehen ihre Kragen hoch. Die Zigarette in den Händen eines Jugendlichen will nicht angehen. Der Wind bläst die Flamme weg. Seine Hand zittert vor Kälte. Selbst der Hund trippelt frierend davon. Der einzige, der an diesem Novembersonntag nicht friert, ist Lenin.
Majestätisch schaut der einstige Kommunistenführer von seinem hohen Sockel über den gleichnamigen Platz, über die Köpfe von Passanten hinweg, über alles da unten, was hustet, raucht und friert. Als wollte er nichts vom Elend wissen. Warum sollte er auch? Er schaut ja direkt in die Zukunft, auf die lebensbejahenden Mosaiken des sozialistischen Realismus am Plattenbau gegenüber. Auf Dom Kultury, die Stadthalle von Sewerouralsk.
Lieder gegen ... AIDS
“Es lebe die kommunistische Partei!” - schallt von der Bühne durch den Saal. Einige Mitvierzigerinnen schwören inbrünstig auf die schief hängende Lenin-Fahne und setzen zum Gesang ein. Lieder aus ihrer Jugend. Über die Heimat. Über die Zukunft. Lieder gegen ... AIDS.
“Dieses Familienkonzert ist auch eine Maßnahme im Kampf gegen HIV", sagt Swetlana Batraewa voller Überzeugung. Sagt's und lächelt. Bitte? “Ja, wir wollen die Werte älterer Generationen an die Jungen weiter geben. Wir helfen ihnen zu verstehen, was Liebe ist. Auch Liebe zur Heimat. Denn davon erzählen die Kommunisten-Lieder. Das gehört schon zur HIV-Prävention.” Ich hake nach: “Ein Vorbild also, wie man sich nicht mit HIV ansteckt?” Batraewa antwortet: “Ja, natürlich soll das ein Vorbild sein. Denn die Älteren wissen, wie man richtig lebt und liebt.”
Sewerouralsk ist ein verschlafenes Städtchen im Norden der russischen Ural-Region. 480 Kilometer bis zu den Großstädten Jekaterinburg und Perm. Kein Flughafen. Und Züge fahren hier nicht. Die einzige Verbindung zur Außenwelt sind Taxen oder Marschrutkas, die Minibusse. Acht Stunden Fahrt bis nach Perm oder Jekaterinburg.
Es ist ein Labyrinth aus grauen Plattenbaufassaden hier, vor den bewaldeten Hügeln des Ural-Gebirges. 26.000 Menschen wohnen hinter diesen Fassaden. Die meisten leben vom Bergbau. Zwar ist die Arbeitslosenquote in Sewerouralsk mit 3,28 Prozent höher als durchschnittlich in Russland, aber das wertvolle Aluminium-Erz Bauxit wird hier immer noch abgebaut. Eine sogenannte Monostadt mit einem Großbetrieb als Hauptarbeitgeber also.
Die HIV-Hauptstadt Russlands
Doch die heile Welt trügt. Denn hinter diesen Plattenbau-Fassaden herrscht seit Jahren eine regelrechte HIV-Epidemie. Jeder 25. Einwohner von Sewerouralsk ist mit dem tödlichen HI-Virus infiziert . Die Stadt im Norden der Ural-Region machte vor ein paar Jahren damit große Schlagzeilen. Sie war eine der ersten Städte in Russland, die die Positiven statistisch sauber erfasste. Mit dieser Offenheit hat sich Sewerouralsk den unrühmlichen Titel der HIV-Hauptstadt Russlands eingebrockt. Noch schlimmer als die Zahl der HIV-Positiven ist aber deren Zusammensetzung. Hier in Sewerouralsk begann bereits die zweite Phase der HIV-Epidemie in Russland. Hier wurde das Virus mittlerweile zu einer Gefahr nicht nur für die sogenannten Risiko-Gruppen, sondern für die gesamte Bevölkerung.
Wie gehen die Menschen mit HIV im Alltag um, will ich wissen. Wir sind wieder draußen, am Lenin-Platz. "Hier gibt´s viele Infizierte und Kranke", sagt eine ältere Frau. "Man sollte besser die Hände waschen." "Und man sollte sich impfen lassen", ergänzt im Vorbeigehen eine andere. "Impfen gegen HIV?" frage ich verdutzt. "Na so ähnlich, oder?" Ein kräftiger Mann mit einer Ledermütze bringt es auf den Punkt: "Das ist eines der größten Probleme unserer Stadt!"
Ich frage einen jungen Raucher mit tief sitzender Kapuze: "Haben Sie HIV-positive Freunde?" Er antwortet mit kratziger Stimme: "Ja. Viele. Alle sind krank. Die halbe Stadt besteht aus Junkies." Ich frage nach: "Drogenabhängige?" "Ja. Jugendliche haben einfach nichts zu tun." Um die Ecke von Dom Kultury schiebt eine junge Frau ihren Kinderwagen vor sich hin: “Ich habe Angst, Angst um meine Kinder", sagt sie. Aus Dom Kultury schallt derweil: "Der Kampf geht weiter. Das Herz ist voller Kummer in der Brust. Lenin ist so jung. Der junge Oktober geht vorwärts!"
Es war einmal schön
Das Krankenhaus von Sewerouralsk liegt nur zwei Gehminuten vom sozialistischen Traum entfernt. Es ist ein alter klassizistischer Stalin-Bau. Mit griechischen Säulen und üppigem Schmuck. Heruntergekommen, morbide, vergilbt. Er war einmal schön.
Hier werden heute die Neuinfektionen gemeldet. Hier kriegen die HIV-Patienten ihre Therapie. Mittlerweile habe die Stadt das Ausmaß der Katastrophe erkannt und reagiert, erzählt Swetlana Batraewa stolz. Bis vor kurzem war sie zuständig für Jugendarbeit und AIDS-Prävention bei der Stadt. Jetzt arbeitet sie als Journalistin. Aber das Thema beschäftigt Batraewa immer noch. Sie widmet ihre Freizeit dem Kampf gegen AIDS: organisiert, berät und berichtet. Und sie begleitet mich an diesem kalten Novembersonntag durch ihre Heimatstadt.
Batraewa erzählt von kostenlosen Bluttests, die in mobilen Labors durchgeführt werden. Übrigens direkt unter dem Lenin-Denkmal. Sie erzählt von Aufklärungsgesprächen in den Betrieben, von der Ansteckungsstatistik, die in Sewerouralsk sorgfältig geführt wird. Von einer ganzen Reihe von Maßnahmen, dank der Sewerouralsk ein echtes Vorbild für andere russische Städte geworden sei. Und davon, dass diese Arbeit sich lohnt. Die Zahl von HIV-Neuinfektionen sinkt. "Eine unserer aktiven Arbeitsmethoden ist das Informieren der Bevölkerung. Darüber, wie man sich richtig schützt", sagt die Aktivistin, "wie man sich richtig verhält und überhaupt wie man richtig lebt. Wir setzen auf gesunde Lebensweise und treten für Werte wie Familie und romantische Beziehungen ein - anstelle von Sex.”
Romantische Beziehungen anstelle von Sex? Dabei sind von der HIV-Epidemie in Sewerouralsk längst nicht nur junge Leute betroffen und auch nicht nur sogenannte Risikogruppen. Wie übrigens in ganz Russland.
Was der Vize-Minister sagt
"Der Ural und Sibirien sind in der Tat mehr von HIV betroffen als der Rest Russlands", gesteht Sergej Krajewoj, Russlands Vize-Gesundheitsminister, als ich ihn später in Moskau zu der Lage in Sewerouralsk frage. "Die Quelle liegt in den Neunzigern. Katastrophale Wirtschaftslage, hohe Arbeitslosigkeit und Drogenhandel waren damals die Gründe. Die Nadel eines jungen Drogensüchtigen war der gängigste Weg bei der Ansteckung. Aber das hat sich geändert. Heute sind mehr als die Hälfte der Infizierten um die vierzig. Sie infizieren sich beim Geschlechtsverkehr.”
Traditionen respektieren
Was hält der hohe Beamte von Familienwerten und romantischer Liebe als HIV-Prävention? "Gesunde Familie ist in allen Ländern und allen Kulturen ein hohes Gut", lächelt Krajewoj. "Aber natürlich reicht das nicht. Das Informieren über die Ansteckungswege ist das Wichtigste. Über Therapien und den toleranten Umgang mit HIV-positiven Menschen. Diese Menschen sind keine Gefahr für ihre Liebsten im Alltag." "Natürlich nicht, wenn man beim Sex einfach Kondome nutzt", ergänze ich und frage: “Warum hängen denn nirgendwo in Russland Plakate mit dieser ganz einfachen Präventionsart? Wie in Berlin etwa,wo man Kondom-Bilder mit der Aufschrift 'Gib AIDS keine Chance!' an den Bushaltestellen sieht?" Der Minister antwortet ernst: "Wir haben nichts gegen einen offenen Umgang mit mechanischen Schutzmitteln." Nach einer Pause präzisiert er: "...mit Kondomen. Es laufen ja auch bei uns im Fernsehen Werbespots der Firma Durex. Übrigens zum Thema HIV. Aber man sollte die kulturellen und die religiösen Traditionen eines Landes respektieren, wenn man wirklich eine freie Gesellschaft sein will.”
Wie die Pflege dieser kulturellen Traditionen einer freien Gesellschaft aussieht, habe ich in Dom Kultury von Sewerouralsk erfahren. Nach drei Stunden geht das Familienkonzert am frühen Nachmittag zu Ende. Die Besucher kehren zurück. Hinter die Fassaden ihrer sowjetischen Plattenbauten.