Gefährdetes Totenreich
5. August 2013Herr Ahmadi* steht an einem seiner Gräber und kann es nicht fassen. Schon wieder ist ein Stein der Länge nach durchgebrochen. Letzten Herbst gab es noch keine Spur von einem Riss. "Verfluchte Kälte!", murmelt er und setzt seinen morgendlichen Rundgang fort.
Herr Ahmadi ist Wärter auf dem christlichen Friedhof im Teheraner Vorort Darvazeh Doulab. Seit 15 Jahren wacht er über das große eiserne Tor am Eingang und mäht das Gras. Keiner kennt die Grabreihen so gut wie er. "So viele Gräber wie ich", sagt er mit Blick auf Mahmud Ahmadinedschad, "hat nicht einmal der Präsident."
Es ist Frühling in der Stadt. Die Familien kommen aus den Norouz-Ferien zurück, in den Straßen wimmelt es von Menschen, die an Obst- und Gemüseständen vorübereilen, am Kiosk Zeitung lesen oder sich von der Sonne die Hände wärmen lassen. In der österreichischen Botschaft im wohlhabenden Norden Teherans verhandeln Diplomaten aus sieben europäischen Ländern über Herrn Ahmadis Gräber. Es geht dort auch um seine Zukunft, denn der Friedhof wird vom Bauboom in der Millionenmetropole bedroht und die Europäer haben sich vorgenommen, ihn zu retten.
Die Diskussion an diesem Morgen verläuft harmonisch, man ist sich einig: "Es muss etwas geschehen", sagt Miklós Karpati, katholischer Priester in Teheran. Berichten der christlichen iranischen Nachrichtenagentur Mohabat zufolge kommt es im Iran immer wieder zu Vandalismus an christlichen Denkmälern und Kultstätten. "Diese Zerstörungen sind keine Ausnahme. Aber bei den Behörden stoßen wir immer wieder auf taube Ohren", erzählt Karpati. So beschließt man, die eigenen Praktikanten auf die Sache anzusetzen. Sie sollen eine Internetseite zum Friedhof aufbauen und die Öffentlichkeit wachrütteln.
Männer sitzen in Parks und würfeln
Der Weg zum Friedhof im Teheraner Vorort Darvazeh Doulab führt durch schmale Straßen, um die sich zweistöckige Häuser aus sandfarbenen Ziegeln drängen. Im Straßengraben fließt kaffeebraun ein Rinnsal, das sich mit den Abfällen der Stadt vermischt. Irgendwo verschwindet es mitsamt den Abfällen unter der Asphaltdecke.
Männer sitzen in tennisfeldgroßen Parks, strecken die Beine aus und spucken Sonnenblumenkernhülsen ins Gras. Ab und zu klackern ihre Würfel übers Backgammon-Brett, dann verschieben sie die Spielsteine. Das Reiben von Holz auf Holz ist so trocken wie die Luft, die nach Abgasen riecht.
Mit einem lauten Quietschen öffnet sich das eiserne Friedhofstor. Herr Ahmadi streckt seinen Kopf heraus, sein Lächeln entblößt eine Reihe schwarzer Zähne. Heute ist Siavash Rastegar gekommen, um seiner verstorbenen Großmutter einen Besuch abzustatten. Er tritt ein und Herr Ahmadi drückt das Tor wieder ins Schloss.
Rastegar ist Architekt, er hat an der renommierten Schule der Londoner Architectural Association studiert und zur Geschichte des Friedhofs geforscht: "Das erste Begräbnis hier gab es im Jahr 1855", sagt er. "Dr. Louis Cloquet, der Leibarzt von Nasereddin Shah, war Franzose, und weil es damals keinen Friedhof für Katholiken gab, errichtete ihm der Shah außerhalb der Stadt ein Mausoleum." Europäer genossen zu der Zeit ein hohes Ansehen im Land. Der Königshof der Qajaren wollte vom technischen Fortschritt und den Wissenschaften profitieren. Religiöse Differenzen waren kein Problem.
Bis 1996 wurde der Friedhof von den christlichen Gemeinden genutzt und wuchs auf eine Fläche von sieben Fußballfeldern an. Dann zog die Stadt die Genehmigung zurück und nun droht der langsame Verfall. Herr Ahmadi führt Rastegar zu dem frisch entdeckten Sprung im Grabstein. Rastegar erklärt: "Bauherren und Investoren haben ein Auge auf das Grundstück geworfen. Es gibt Pläne, das Areal in einen Park umzuwandeln. Dabei ist der Friedhof Teil des nationalen Kulturerbes und steht unter Schutz. Aber wir sind hier im Iran."
Der Ramadan endet vor der Friedhofsmauer
In den fünf Teilen des Friedhofs liegen Christen unterschiedlicher Konfessionen begraben: armenisch-katholisch, armenisch-gregorianisch, assyro-chaldäisch, orthodox und römisch-katholisch. Sie alle haben eines gemeinsam: Zu Lebzeiten gehörten sie einer religiösen Minderheit an. Die meisten Iraner nehmen es mit der Unterscheidung nicht so genau. Sie nennen den Friedhof den Friedhof der Armenier, obwohl dort doch auch zahlreiche Europäer, Russen und Georgier begraben liegen.
Herr Ahmadi hat Reis gekocht. Er sitzt vor der kleinen Wärterhütte, hat den Teller in der linken Hand, in der rechten ein zur Schaufel geformtes Stück Brot, und kaut genüsslich. Draußen auf der Straße knistert und rauscht es, dann erklingt aus einem Lautsprecher an der Straßenecke die Stimme eines Muezzins, der die Muslime zum Gebet ruft. Herr Ahmadi ignoriert den Gesang, schaut lieber weiter seinen Hunden beim Spielen zu. Er ist Muslim, aber es ist lange her, dass er zum Gebet in die Moschee gegangen ist. Der Umgang mit den Christen und den Ausländern, vielleicht aber auch einfach sein ungewöhnlicher Beruf haben ihn zum verschrobenen Außenseiter gemacht. Wenn ihn jemand bei der Arbeit besuchen kommt, dann sind es meist die Wärter der anderen Friedhofsteile oder ein paar Wehrdienstleistende aus der nahe gelegenen Kaserne, die bei ihm ihre Motorräder reparieren.
Dabei ist jetzt Ramadan. Doch Herr Ahmadi winkt ab, schnalzt mit der Zunge und sagt: "Fasten? – Nein danke. Nach so vielen Jahren auf dem Friedhof bin ich auch ein bisschen zum Christen geworden." Er zwinkert. Der Dialog der Religionen, hinter den Mauern des Friedhofs von Doulab scheint er zu funktionieren.
Parallelwelt im armenischen Club
Anerkannte religiöse Minderheiten im Iran dürfen nicht missionieren. Ihre Rituale halten sie meist hinter verschlossenen Türen ab. Durch diese Verschwiegenheit erkaufen sich die Christen aber auch Privilegien, die der muslimischen Mehrheit offiziell nicht vergönnt sind. Die armenischen Clubs in Teheran etwa sind beliebte Treffpunkte für Armenier und Ausländer, weil hier Alkohol ausgeschenkt und getanzt wird. Muslime aber müssen draußen bleiben. Das ist der Preis.
Herr Ahmadi hat mal davon gehört, dass es solche Orte in Teheran geben soll, wo sich Frauen ohne Kopftücher auf Liegestühlen in der Sonne räkeln. Für ihn klingt das wie eine Verheißung. Seine Besucher danach zu fragen, hat er sich aber nie getraut. Diskretion ist das Geschäft eines Friedhofswärters.
Das Bild, das sich im armenischen Club bietet, ist sittsamer als in Herrn Ahmadis Vorstellung. Tische und Stühle stehen dort auf einer rot betonierten Fläche. Man sitzt unter Reben wie in einer offenen Gartenlaube. In einer Ecke klimpert ein gut gebräunter Mann im weißen Anzug mit rosa Krawatte am Klavier. Einige Gäste sind in Abendgarderobe gekommen, andere haben sich leger ihre Pullover über die Schultern gelegt, plaudern und scherzen bei Kalbszunge und Rotwein. Wer hierher kommt, möchte genießen.
Vielleicht wird einer dieser Menschen mal auf Herrn Ahmadis Friedhof beerdigt. Dazu müsste zunächst die Stadtverwaltung die Erlaubnis erneuern. Platz genug gäbe es und Miklós Karpati, der Priester, arbeitet schon lange daran. Seit die Botschaften sich eingeklinkt haben, dürften seine Chancen gestiegen sein. Aber Verwaltungsmühlen mahlen langsam, auch im Iran.
Auf dem Friedhof ist derweil noch ein Grabstein umgefallen. Herr Ahmadi hat ihn am frühen Morgen entdeckt. "Wieder einer weniger", murmelt er und setzt seinen Rundgang fort. "Wenn das so weiter geht, holt mich der Präsident bald ein."
* Namen von Personen, außer von Personen des öffentlichen Lebens, geändert.