Maas: "Müssen Schlüsse aus dem Brexit ziehen"
25. Dezember 2020DW: Ein Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft ist zweifelsohne, dass trotz aller Differenzen der neue Finanzrahmen und die Milliarden-Corona-Hilfen beschlossen wurden. Aber beim Thema Corona-Impfung fragen sich viele Europäer, warum es so lange dauert und sie das Gefühl haben, sich hinten anstellen zu müssen - schließlich bedeutet jeder ungenutzte Tag Menschenleben. Nehmen Sie das Risiko hin?
Es geht um beides: Schnelligkeit und Sorgfalt. Um die Pandemie zu überwinden, müssen wir 2021 flächendeckend den Impfstoff zur Verfügung stellen. Und es wird verschiedene Impfstoffe mit unterschiedlichen Eigenschaften geben, auch was Transport und Lagerung betrifft. Die Länder haben regionale Impfzentren geschaffen, dorthin wird der Impfstoff geliefert. Und am 27. Dezember können wir dann mit den Impfungen beginnen, erst mal in Alten- und Pflegeheimen, bei Menschen ab 80 Jahren und bei bestimmtem Ärztepersonal.
Als Außenminister ist mir noch ein anderer Punkt wichtig: Wir setzen uns dafür ein, dass der Corona-Impfstoff weltweit ein öffentliches Gut sein muss. Ein sicherer und bezahlbarer Impfstoff soll allen auf der Welt zur Verfügung stehen. Diesem Ziel hat sich unter anderem die internationale Impfstoffallianz COVAX verschrieben. Deutschland ist COVAX beigetreten und fördert deren Arbeit mit ganz erheblichen Mitteln.
Das neue EU-Budget und die Hilfsfonds wurden nur möglich, weil die EU beim Thema Rechtsstaatlichkeit nachgegeben hat. Bedauern Sie nicht, dass durch den ausgehandelten Rechtsstaatsmechanismus die Aushöhlung der Gewaltenteilung in Polen und Ungarn noch Monate, wenn nicht Jahre geht? Was hat die deutsche Ratspräsidentschaft getan, damit die EU in Zukunft handlungsfähiger statt erpressbar wird?
Ohne die Einigung auf das Corona-Finanzpaket wäre Europa zum 1. Januar in ziemlich unruhiges Fahrwasser geraten. Die Menschen und Unternehmen, die von Corona hart getroffen wurden, brauchen schnell diese Unterstützung. Es war wichtig, dafür zu kämpfen.
Zusätzlich haben wir das neue Instrument der Rechtsstaatsbindung. Es ist ein scharfes Schwert, das man nicht kleinreden sollte. Trotz der Widerstände aus Polen und Ungarn haben wir diese rechtliche Regelung nicht angetastet. Offen ist nun allein, wie der Europäische Gerichtshof die Rechtsstaatsbindung beurteilt - sollte er in dieser Frage angerufen werden.
Dass es zum Brexit kommt - mit oder ohne Abkommen - erschüttert die EU. Haben Sie während der Ratspräsidentschaft das Gefühl gehabt - gerade bei Verhandlungen zur Rechtsstaatlichkeit, dass bald weitere Exits folgen könnten? Müsste sich nicht ein kleiner Kreis von Mitgliedsländern auf eine verstärkte Integration verständigen, um das Überleben der EU zu sichern?
Im Gegenteil: Mit der Brexit-Debatte ist die grundsätzliche Zustimmung zur EU in fast allen Mitgliedstaaten in den letzten Jahren wieder gestiegen, gerade auch in Deutschland. Ich glaube, viele Menschen haben die Vorteile der EU irgendwann zu sehr für selbstverständlich genommen, weil sie es gar nicht mehr anders kannten. Der Brexit hat uns dann die Vorteile noch mal sehr klar vor Augen geführt: freies Reisen, freier Handel, und die Chance, dort in Europa zu leben, zu arbeiten oder zu studieren, wo man will. Ich sehe aktuell in der EU nirgendwo eine Mehrheit, die darauf verzichten wollte.
Aber natürlich müssen wir unsere Schlüsse aus dem Brexit ziehen. Es gibt in der EU ja bereits die Möglichkeit, dass eine Gruppe von Mitgliedstaaten gemeinsame Regelungen einführt, ohne dass sich andere Länder daran beteiligen - die sogenannte verstärkte Zusammenarbeit. Aber entscheidender ist: Wir dürfen in der nationalen Politik nicht ständig Brüssel an den Pranger stellen, wenn etwas in die falsche Richtung läuft. Und wir müssen ehrlicher und verständlicher erklären, wie wir in Brüssel entscheiden - dort sitzen schließlich immer alle Mitgliedstaaten mit am Tisch.
Es wollen auch immer mehr Länder in die EU. Doch die Erweiterungsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien stocken, ebenso die Visa-Liberalisierung für Kosovaren - beides waren Ziele der deutschen Ratspräsidentschaft. Im Westbalkan spricht man vom "Versagen der Deutschen". Wie wollen Sie die Glaubwürdigkeit der EU in der Region retten?
Wir sind die letzten, die bei diesem Thema in der EU bremsen. Im Kern geht es bei der Blockade um das bilaterale Verhältnis von Bulgarien zu Nordmazedonien. Wir haben als Ratspräsidentschaft mit hohem Aufwand versucht, eine Lösung zu vermitteln. Leider noch ohne Erfolg.
Unsere Partner auf dem Westbalkan haben riesige Fortschritte gemacht in den letzten Jahren, gerade auch Nordmazedonien. Die Menschen dort sehen ihre Zukunft in der EU. Deshalb müssen sie sich auf unsere Zusagen verlassen können, sonst wenden sie sich ab. Die EU-Perspektive ist ein wichtiger Anreiz für politische und rechtsstaatliche Reformen, die auch in unserem ureigenen Interesse liegen. Wir setzen uns weiter für eine Lösung in diesem Sinne ein, auch nach Ende unserer Ratspräsidentschaft.
Es gab auch Hoffnungen, dass die deutsche Ratspräsidentschaft den Dialog zwischen Griechenland und der Türkei im östlichen Mittelmeer voranbringt. Bisher ist es nicht gelungen, ist Deutschland als Vermittler gescheitert?
Es gibt ja schon EU-Sanktionen, die beim Europäischen Rat im Dezember auch noch einmal ausgeweitet wurden. Diese Sanktionen richten sich gezielt gegen Personen und Firmen, die an illegalen Gasbohrungen beteiligt sind.
Die Türkei muss jetzt glaubhafte Schritte hin zu einer Deeskalation machen. Wir haben von der Türkei durchaus auch Signale der Entspannung gesehen in den letzten Wochen und Monaten, aber leider gab es auch immer wieder neue, gezielte Provokationen. Dieses Wechselspiel muss aufhören. Das Angebot einer Positivagenda in unseren Beziehungen liegt dann weiter auf dem Tisch.
Die deutsche Ratspräsidentschaft hatte sich die Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben. Gleichzeitig wird ein lukratives Investmentabkommen mit China angestrebt. Haben Sie da persönlich keine Bauchschmerzen?
Bei den Verhandlungen um ein Investitionsabkommen zwischen der EU und China geht es vor allem darum, faire Bedingungen beim Marktzugang zu schaffen. Wir wollen, dass deutsche und europäische Unternehmen auch gleichberechtigten Zugang zum chinesischen Markt haben, das darf keine Einbahnstraße sein. Und es geht gerade auch um den Schutz von Arbeitnehmerrechten und Nachhaltigkeitsstandards. Das sind für uns Voraussetzungen für ein Abkommen. Außerdem sprechen wir Menschenrechtsverletzungen bilateral weiter regelmäßig in aller Deutlichkeit und auf allen Ebenen gegenüber China an.
Die Fragen der DW wurden schriftlich beantwortet.