Hauen und Stechen in der Koalition
9. September 2016Gut sahen die meisten Parlamentarier aus, als sie am Montag in Berlin wieder zur Arbeit kamen. So wie man eben aussieht, nach mehr oder weniger zwei Monaten Sommerpause. Und trotzdem lag in der ersten Sitzungswoche im Bundestag eine gewisse Spannung in der Luft. Ein Grummeln, konzentriert auf die Regierungsfraktionen CDU, CSU und SPD. Mit den anstehenden Haushaltsberatungen hatte das nichts zu tun. Die sind Routine.
Während der Sommerpause hat sich etwas spürbar verändert. Der Streit über die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin ist nicht neu, doch die Attacken der CSU und ihres Vorsitzenden Horst Seehofer sind noch härter geworden und auch der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel schießt inzwischen quer. "Wir schaffen das", dieser Satz alleine reiche nicht, so hat der Vize-Kanzler die Bundeskanzlerin mehrfach kritisiert. Stattdessen fordert er plötzlich auch Obergrenzen für Flüchtlinge und bemüht sich um Abstand zu Angela Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik.
Und das, obwohl er vor einem Jahr mit einem "Flüchtlinge-Willkommen-Anstecker" im Bundestag saß und die SPD in der Bundesregierung alle Beschlüsse in der Flüchtlingspolitik mit gefasst hat.
Vergiftete Stimmung
In den Regierungsfraktionen sind nicht wenige Abgeordnete irritiert. Wer die Fakten sieht, kann nicht weniger als eine Kurskorrektur der Flüchtlingspolitik mit einer drastischen Verschärfung des Asylrechts sowie rückläufigen Flüchtlingszahlen feststellen. Trotzdem will sich die politische Lage nicht beruhigen und das Hauen und Stechen hört nicht auf. Die Stimmung in der Koalition ist regelrecht vergiftet. Bedurfte es eines weiteren Tropfens, um das Fass zum Überlaufen zu bringen, hat ihn der Ausgang der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern geliefert.
Knapp 21 Prozent der Stimmen konnte die Partei Alternative für Deutschland (AfD) für sich gewinnen. Noch viel schwerer wiegt aber, dass die Rechtspopulisten die CDU auf Platz drei verwiesen hat und dass das Ganze in dem Bundesland passiert ist, in dem die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende ihren Wahlkreis hat. Das hat die Union ins Mark getroffen. "Ich bin Parteivorsitzende, ich bin Bundeskanzlerin, und in den Augen der Menschen kann man das nicht trennen", meldete sich Angela Merkel am Montag vom G20-Gipfel im fernen China zu Wort. "Und deshalb bin ich natürlich auch verantwortlich."
Finanzminister Schäuble hält (noch) zu ihr
Was nicht heißt, dass die Kanzlerin im Umgang mit der Flüchtlingskrise Fehler einräumen will. Von China aus verteidigte sie ihren Kurs vehement als richtig. Vor ihren Kritikern würde sie nicht wanken und nicht weichen, das konnte jeder hören und sehen. Das wurde erst recht deutlich, als Merkel wieder in Berlin war. Schon am Dienstagmorgen saß sie – pünktlich zum Beginn der Haushaltsdebatte – im Parlament auf ihrem angestammten Platz auf der Regierungsbank. Sichtlich müde zwar, aber beherrscht und bemüht, möglichst gute Mine zu machen.
Bundesfinanzminister und CDU-Parteifreund Wolfgang Schäuble sprang ihr unmittelbar zur Seite. Statt zum Beginn der Haushaltsdebatte sofort zum eigentlichen Thema zu kommen, hielt Schäuble am Dienstagmorgen so etwas wie eine kleine Rede zur Lage der Nation. Reichlich Angst macht er in der Bevölkerung aus, insbesondere Angst vor Veränderung. "Es stürmt vieles von außen auf uns ein: Bedrohliches, Bedrückendes, Beunruhigendes, in der Fülle oft schwer zu sortieren." Es gebe die Sorge, "wie unsere Gesellschaft sich verändert, durch die Flüchtlinge, durch Zuwanderung, durch zunehmende Ängste vor Terror und Unsicherheit."
Deutschland bleibt Deutschland
Es ist eine Rede, die man eigentlich aus dem Mund der Bundeskanzlerin hören möchte. "Es hilft alles nichts, unser Land verändert sich", sagt der 73-jährige Schäuble fast väterlich. Deutschland müsse bereit sein, Änderungen als Chance zu begreifen. "Es geht um Veränderung, nicht um Selbstaufgabe." Angela Merkel hört schweigend zu. Das Wort ergreift sie erst einen Tag später, dann aber mit aller Emotionalität, die ihr, der so nüchternen Analytikerin, überhaupt zur Verfügung steht.
"Deutschland wird Deutschland bleiben - mit allem was uns daran lieb und teuer ist", sagt sie und zählt auf, was die Koalition in den vergangenen Monaten unternommen hat, um das zu gewährleisten. Wie sie die Aufnahme der Flüchtlinge geregelt und geordnet hat. "Die Situation heute ist um ein Vielfaches besser als vor einem Jahr."
Im Parlament ist es ungewöhnlich still. Keine Zwischenrufe, kein Geraune. Angela Merkel trägt eine schwarze Hose und einen roten Blazer. Die Farben der Koalition. Ein Signal? Auch die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Gerda Hasselfeldt, verweist auf die Erfolge der Regierung und setzt sich damit faktisch von ihrem Parteichef Horst Seehofer ab. Für einen Moment scheint es, als könne sich alles zum Guten wenden.
Die Zuwanderungs-Säule
Der Donnerstag zeigt, dass der Eindruck getäuscht hat. In der bayerischen Landesvertretung in Berlin stellte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer sechs programmatische Säulen der CSU-Politik vor. Eine dieser Säulen lautet: "Klarer Kurs bei der Zuwanderung". Auf fünf Seiten wird mehr oder weniger hinreichend Bekanntes zusammengefasst, darunter die Forderung nach einer Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr, die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft, die faktische Schließung der nationalen Grenzen für Flüchtlinge und die Einrichtung von Transitzonen, aus denen schnell wieder abgeschoben werden soll.
Die CSU macht damit klar, dass sie nicht gewillt ist, den Fehdehandschuh einzustecken. Im Gegenteil. Ob und in welchem Umfang die CSU Angela Merkel im Bundestagswahlkampf unterstützen würde, sollte sie erneut als Kanzlerkandidatin antreten, das soll so schnell nicht entschieden werden. Personelle Fragen würden erst im Frühjahr nächsten Jahres beantwortet, bis dahin werde inhaltlich diskutiert, so Scheuer. Keine guten Aussichten für Merkel, die sich Anfang Dezember erneut um den CDU-Vorsitz bewerben will. Da braucht man einen festen und unangefochtenen Stand.
Showdown im Kanzleramt?
Es gibt also viel zu besprechen, wenn sich Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel am Sonntag zu einem Koalitionsgipfel im Kanzleramt treffen. Zwar ließ Seehofer vorab wissen, er setze darauf, dass der Unionsstreit über die Flüchtlingspolitik bis Ende Oktober geklärt sei. Der CSU-Chef lässt aber keinen Zweifel daran, wohin die Reise gehen soll. Er sei sehr froh, dass der SPD-Bundesvorsitzende Gabriel, mit dem er auch darüber gesprochen habe, "die Obergrenze als Voraussetzung für die Integrationsfähigkeit eines Landes mittlerweile übernommen hat," sagte Seehofer anlässlich einer Vorstandsklausur seiner Partei. Ohne Begrenzung der Zuwanderung werde Deutschland es nicht schaffen. "Das ist meine tiefe Überzeugung."
Ob sich daraus ein Kompromiss ergeben kann, darf bezweifelt werden. Doch der Streit lähmt, er macht die Koalition noch handlungsunfähiger, als sie es derzeit ohnehin ist. Dieser Streit kommt auch beim Wähler schlecht an. Dabei gebe es soviel, was Union und SPD in Berlin noch regeln müssten, bevor im kommenden Jahr tatsächlich nur noch Wahlkampf herrscht: Ob Erbschaftssteuer, Rente, Leiharbeit, Verbesserungen für behinderte Menschen, Klimaschutzplan, Familiengeld, oder die Freihandelsabkommen TTIP und CETA. Vom Hauen und Stechen in der Koalition profitiert allein die AfD. Sie freut sich über jeden Bürger und Wähler, der sich von den etablierten Parteien abwendet.