1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KonflikteTürkei

Hass auf syrische Flüchtlinge in der Türkei

2. Juli 2024

Anti-türkische Proteste in Syrien und Ausschreitungen gegen Syrer in der Türkei: Die Gewalt im Grenzgebiet durchkreuzt die geplante diplomatische Wiederannäherung der beiden Staaten. Welche Rolle spielt Russland?

https://p.dw.com/p/4hmAI
Nächtliche Kundgebung gegen Syrer in der türkischen Stadt Kayseri, 30.6. 2024
Zorn der Straße: Kundgebung gegen Syrer im türkischen KayseriBild: DHA

Gewaltausbruch im syrisch-türkischen Grenzgebiet bei Afrin: Mehrere Menschen sind in Nordwest-Syrien bei anti-türkischen Protesten ums Leben gekommen. Die Demonstranten in dem türkisch kontrollierten Gebiet handelten nach eigenen Angaben aus Solidarität mit ihren syrischen Landsleuten in der Türkei.

Dort, in der zentralanatolischen Stadt Kayseri, hatte zuvor ein Mob Geschäfte und Autos syrischer Geflüchteter in Brand gesetzt und zerstört. "Wir wollen keine Syrer mehr" skandierte die aufgebrachte Menge.

Der Ärger der Menge richtete sich auch gegen die Syrien-Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. "Trete zurück, Erdogan", riefen die Demonstranten - und zeigten so, dass sie Erdogans lange praktizierte Politik der offenen Tür für syrische Flüchtlinge nicht länger akzeptieren wollen.

In der Türkei leben insgesamt rund dreieinhalb Millionen Menschen aus Syrien . Erdogan selbst kritisierte die Ausschreitungen in Kayseri als "inakzeptabel". Rund 470 Personen sollen dort laut Medienangaben festgenommen worden sein.  

Drei bewaffnete Männer auf einem Pick Up protestieren nahe Aleppo gegen die Türkei
Unmut unter Waffen: Proteste gegen die Türkei in der syrischen Region AleppoBild: Bakr Alkasem/AFP/Getty Images

Diplomatische Wiederannäherung 

Die Proteste und Gewaltausbrüche durchkreuzen die geplante Wiederannährung zwischen der türkischen und syrischen Regierung. Erst vor kurzem hatten die Machthaber beider Länder mehr oder weniger deutlich angekündigt, ihr seit vielen Jahren zerrüttetes Verhältnis neu ordnen zu wollen. 

Bereits zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 hatte Ankara die Beziehungen auf Eis gelegt. Erdogan unterstützte in dem Konflikt vor allem die gegen das syrische Regime kämpfenden dschihadistischen Gruppen.

Verschärft hatte sich das Verhältnis beider Staaten auch, weil die Türkei während des syrischen Bürgerkriegs Teile des syrischen Nordostens unter ihre Kontrolle gestellt hatte. Dort bekämpft sie kurdische Kräfte, die Ankara als terroristisch bezeichnet. 

Doch nun weht offenbar ein neuer Wind. Der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit Syrien stünden keinerlei Hindernisse entgegen, hatte Erdogan am 28. Juni erklärt. Kurz zuvor hatte auch Syriens Präsident Baschar al-Assad angedeutet, das Verhältnis zur Türkei neu beleben zu wollen. 

Syrien | Bashar Assad empfängt Recep Tayyip Erdogan 2011 in Syrien
Lang ist es her: 2011 wurde Erdogan von Machthaber Assad in Syrien empfangen. Nach Jahren diplomatischer Eiszeit wollen die beiden Herrscher wieder diplomatische Beziehungen aufnehmenBild: SANA/AP/picture alliance

Erdogans Interessen 

Für beide Länder geht es um viel. So steht die Regierung in Ankara wegen der in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge massiv unter Druck. Die Stimmung gegen sie hat sich in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert.

Erdogan wolle verhindern, dass noch mehr Syrer in die Türkei kämen, meint André Bank, Syrien- und Türkei-Experte am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg. "Zudem will er erreichen, dass möglichst viele Syrer die Türkei wieder verlassen." Gelänge es ihm, ein Rückführungsabkommen abzuschließen, wäre dies für Erdogan ein großer innenpolitischer Erfolg. 

Zudem hat die Türkei den Nordosten Syriens im Blick. Dort liefert sich das türkische Militär seit Jahren Kämpfe mit der kurdischen YPG-Miliz. Diese gilt als eng verbunden mit der in der Türkei aktiven Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), die dort - wie auch in der EU - als Terrororganisation geführt wird. 

Eine Entwicklung im Nordosten könnte der eigentliche Auslöser von möglicherweise schon bald bevorstehenden Verhandlungen zwischen Syrien und der Türkei sein, sagt Michael Bauer, Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) im Libanon, die von dort aus auch die Entwicklung in Syrien beobachtet.

Zerstörte Siedlung im Nordosten Syriens nach einem türkischen Luftangriff in Derik
Seit Jahren kämpft das türkische Militär im Nordosten Syriens einen Zermürbungskrieg gegen die Kurdenmiliz YPGBild: North Press Agency via REUTERS

"Die in der Region präsenten, gegen Assad gerichteten 'Syrian Democratic Forces' (SDF) und die kurdische Selbstverwaltung hatten kürzlich erklärt, in den kurdisch-kontrollierten Gebieten Kommunalwahlen abhalten zu wollen", erläutert Bauer.

Dieses Vorhaben sei insbesondere in der Türkei auf Ablehnung gestoßen. "Aufgrund des internationalen Drucks wurden sie nun in den August verschoben." 

Ziele des syrischen Regimes 

Umgekehrt verfolgt auch das syrische Regime mit der Annäherung konkrete Ziele. Grundsätzlich gehe es Assad darum, den Normalisierungsprozess mit den arabischen Staaten fortzuführen, sagt André Bank.

Dieser kam spätestens im Mai 2023 in Gang, als Syrien wieder als aktives Mitglied in die Arabische Liga aufgenommen wurde. Diesen Kurs wolle es auch mit Blick auf seine nicht-arabischen Nachbarn fortsetzen.

Zudem wolle das Regime auch die derzeit von der radikal-islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Scham (HTS) kontrollierte Region Idlib im Nordwesten des Landes zurückerhalten. Da die Türkei den nördlichen Teil von Idlib kontrolliert, könnte sich eine Zusammenarbeit beider Staaten anbieten.

Dies gilt auch mit Blick auf die kurdisch kontrollierten Gebiete im Nordosten. Auch dort will das Assad-Regimes seine Präsenz wieder ausbauen. "Eine Einigung mit der Türkei wäre für dieses Ansinnen äußerst hilfreich", sagt Bank.

Ein in Brand gesetzter türkischer LKW nahe Aleppo, 1.7. 2024
Ein von wütenden syrischen Demonstranten in Brand gesetzter türkischer LKW in der Region AleppoBild: Bakr Alkasem/AFP/Getty Images

Moskau vermittelt

Die Frage ist nun, welche Folgen die Ausschreitungen auf beiden Seiten auf die geplante syrisch-türkische Wiederannäherung haben. Zum einen dürften sie einer Annäherung atmosphärisch entgegenstehen, da zumindest Teile der Bevölkerungen beider Länder harsche gegenseitige Abneigung bekundet haben.

Zum anderen aber könnten sie den geplanten Annäherungskurs auch beschleunigen, da sich durch eine Zusammenarbeit die Forderungen und Motive der Demonstranten entschärfen ließen und beide Seiten dies innenpolitisch als Erfolg "verkaufen" könnten.

Für die Europäer dürfte besorgniserregend sein, dass laut Beobachtern hinter den Kulissen bereits erste Schritte zu einer türkisch-syrischen Annäherung stattgefunden haben - unter russischer Vermittlung.

Russland versucht derzeit, seinen Einfluss fast überall in der Region auszubauen. "Man muss sich in der EU darüber im Klaren sein, dass Moskau bedingungslos die eigenen Interessen in Syrien und in der Region verfolgen wird", mahnt KAS-Experte Michael Bauer - "auch und gerade auch auf Kosten Europas." 

Syrien: Ein Jahr nach dem Erdbeben

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas