Warum japanische Literatur angesagt ist
13. November 2020Vom Himmel fallende Fische und Mensch-Tier-Kreaturen sind nur einige der "normalen" Erscheinungen in Haruki Murakamis Romanen. Durch seine Bestseller, die in rund 50 Sprachen übersetzt wurden, hat der japanische Autor Millionen Fans auf der ganzen Welt.
Obwohl der in Kyoto geborene Schriftsteller nicht der erste japanische Autor ist, der außerhalb des eigenen Landes erfolgreich ist - Yasunari Kawabata und Kenzaburo Oe waren beide Nobelpreisgewinner -, hat Murakami das Image japanischer Literatur verändert. Dank ihm werden viel häufiger japanische Romane übersetzt.
Ursula Gräfe hat schon viele von Murakamis Büchern ins Deutsche übertragen - auch die neue deutsche Version von "Nejimaki-dori kuronikuru" (1997) stammt von ihr. Sie wurde im Oktober 2020 unter dem Titel "Die Chroniken des Aufziehvogels" im Dumont-Verlag veröffentlicht. Für Gräfe bilden japanische Romane oft eine Gesellschaft ab, "die sich von unserer eigenen unterscheidet, aber mit vergleichbaren Problemen zu kämpfen hat. Murakami ist einer der Pioniere, der den Weg für diese Art Literatur geebnet hat", sagt sie im DW-Gespräch.
Warum Haruki Murakami bei deutschen Lesern so beliebt ist
Murakami landete 1987 mit "Naokos Lächeln" im literarischen Mainstream. Die nostalgische Liebesgeschichte spielt im Tokio der 1960er-Jahre und verbindet klassische Murakami-Themen wie Einsamkeit, Verlust, Heimweh und Langeweile. Die Protagonisten in Murakamis Werken zeichnen sich oft durch einen unkonventionellen Lebensstil aus. Es sind Charaktere ohne stabile Beziehungen, manche haben sich entfremdet von der traditionellen Familie.
"Naokos Lächeln" war in Japan extrem beliebt, doch auch europäische Leserinnen und Leser haben sich in den darin beschriebenen universellen Erfahrungen wiedergefunden. Ursula Gräfe zufolge habe die deutsche Leserschaft möglicherweise ein besonderes Verständnis für Murakamis Schriften: "Aufzuwachsen in der Nachkriegsgesellschaft Japans hatte einen starken Einfluss auf Murakami", sagt die Übersetzerin. "Die Ablehnung von nationalen Traditionen und Geschichte sowie die Hinwendung zu einem neuen und liberaleren Lebensstil, bei dem amerikanische Musik eine große Rolle einnimmt, ist eine Erfahrung, die Japan und Deutschland teilen."
Murakamis aufregende surreale Welten
Es gebe, so Gräfe, zwei Arten von Murakami-Lesern in Deutschland: Neben jenen, die ihn für seine bodenständigeren Geschichten wie "Naokos Lächeln" lieben, gibt es die, die seine surrealen Romane bevorzugen wie "Die Ermordung des Commendatore" (2018; deutsche Übersetzung: Ursula Gräfe). Murakami ist bekannt dafür, surreale Welten durch magischen Realismus zu erschaffen.
Die Unvorhersehbarkeit gewisser Ereignisse in Murakamis Erzählungen mache für europäische Leserinnen und Leser einen Großteil der Faszination aus. Sie fühlten sich in die fließende Interaktion verschiedener Welten hineingezogen, in dieses Kontinuum von allen Dingen und schätzten Murakamis natürlichen Umgang mit scheinbar Unwirklichem, so Gräfe.
Japanische Kultur: Zufluchtsort in ungewissen Zeiten
Marie Claire Lukas, Leiterin der Presseabteilung von Murakamis deutschem Verlag Dumont, schreibt den Erfolg japanischer Literatur in Deutschland der hierzulande "wachsenden Beliebtheit japanischer Kultur im Allgemeinen" zu. Ursula Gräfe glaubt, dass Mangas und Animes ein wichtiger Faktor seien: "Überall ist die visuelle Kultur bedeutsamer als jemals zuvor geworden, und das Visuelle ist in Japan schon immer von größter Bedeutung und auffälliger Besonderheit gewesen."
Laut Franz Prichard, der an der Princeton University im Bereich Ostasiatische Studien lehrt, erfreue sich die zeitgenössische japanische Belletristik deshalb so breiter Popularität, weil sie einen komfortablen Zufluchtsort von der realen Welt und ihren Extremen bietet - besonders in Zeiten verschärfter politischer Angst. "Es geht weniger darum, eine 'Flucht' zu suchen, von einem Ort zu einem anderen, sondern es geht mehr um die 'Zuflucht', die uns literarische Werke ermöglichen", sagt Prichard gegenüber der DW. Er glaubt, dass angesichts der wachsenden Gewalt, hervorgerufen durch den sich weltweit ausbreitenden Neoliberalismus und autoritären Staatskapitalismus, solche Orte literarischer "Zuflucht" auch in Zukunft neue Vorstellungswelten hervorbringen werden.
Japan ist "reine Erfindung"
Nach Murakamis Erfolg weisen auch viele der jüngsten japanischen Bestseller in Europa Elemente von magischem Realismus und Kuriositäten auf, die den Eindruck erwecken, dass die Leser die Japaner als genau das sehen wollen - seltsam, anders, eigenartig.
Aber wie Gräfe herausstellt, werde oft vergessen, dass Murakamis Stil tatsächlich eine Besonderheit in der japanischen Kultur darstellt; denn der magische Realismus stammt eigentlich aus der lateinamerikanischen Literatur. Oscar Wilde sagte einmal: "Ganz Japan ist reine Erfindung. So einen Ort gibt es nicht. Solche Leute gibt es nicht." Mit anderen Worten: Das Land der aufgehenden Sonne - ähnlich wie unsere Wahrnehmung jeder anderen uns fremden Kultur - ist ein Produkt unserer Vorstellungskraft.
Gräfe räumt ein, dass jene japanischen Werke, die für eine Übersetzung ausgewählt werden, dazu beitragen bestimmte Vorurteile über Japan zu verstärken. Das führe zu dem Phänomen, dass "japanische Kultur" durch Literatur fetischisiert werde. "Aber das gilt für übersetzte Literatur generell", sagt sie. "Das ist die Falle, die für uns ausgelegt wird, wenn wir ausländische Literatur lesen oder übersetzen."
Japan sei eine von Europa weit entfernte Insel, die eine optimale Leinwand für Projektionen biete. "Viele verschiedene Japan-Bilder wurden von den Bedürfnissen der westlichen Psyche heraufbeschworen, vom lieblichen Land der Lotusblume in Giacomo Puccinis 'Madama Butterfly' bis hin zur Darstellung Tokios als seltsamen und befremdlichen, von Neonlichtern erhellten Spielplatz in Sophia Coppolas 'Lost in Translation'", so Gräfe.
Doch für die Übersetzerin trifft dieses Phänomen nicht direkt auf Murakamis Werke zu. Ihm sei nicht durch exotische Darstellungen Japans gelungen, Eindruck auf seine Leser zu machen, sondern weil er bekannte und unbekannte Elemente in seinen Werken verbinde.
Große Bandbreite japanischer Literatur
Glücklicherweise hätten sich die "im Westen populären Vorstellungen von Japan" in den vergangenen Jahrzehnten geändert, so dass europäische Leser heute Zugang zu einer größeren Vielfalt an japanischen Stimmen hätten, unterstreicht Gräfe. Bis in die 1990er-Jahre waren Übersetzungen aus dem Japanischen fast nur auf "klassische" Autoren wie Natsume Soseki und Jun'ichiro Tanizaki beschränkt.
Heute gibt es eine Nachfrage nach jungen japanischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die sich mit der problematischen sozialen Situation im gegenwärtigen Japan auseinandersetzen. Jüngst wurden einige dystopische Romane, zum Beispiel von Ryu Murakami und Manichi Yoshimura, übersetzt.
Junge japanische Schriftstellerinnen auf dem Vormarsch
Jüngere Autorinnen wie Sayaka Murata ("Das Seidenraupenzimmer", übersetzt von Ursula Gräfe) oder Mieko Kawakami ("Brüste und Eier", übersetzt von Katja Busson) - beide erschienen 2020 in Deutschland - hätten in Europa große Aufmerksamkeit erhalten, weil sie eine kompromisslose, teils radikale Einstellung zur modernen Gesellschaft haben, sagt Gräfe.
Muratas "Die Ladenhüterin" (auf Deutsch 2018 in der Übersetzung von Ursula Gräfe erschienen), worin gesellschaftlicher Druck, Konformismus und Sexismus unter die Lupe genommen wird, und ihr "Das Seidenraupenzimmer", worin die Protagonistin sexuell missbraucht wird, haben bei einer weiblichen Leserschaft rund um den Globus Anklang gefunden. Prichard schreibt diesen neuen Trend der "ansteigenden Welle sozialer und ökologischer Gerechtigkeit fordernden Bewegungen" auf der ganzen Welt zu, die ausloten, "was möglich ist und was sich ändern muss."
Adaption: Verena Greb