"Mit dem Terror werden wir leben müssen"
9. Januar 2015Deutsche Welle: Herr Harpprecht, am Tag des Anschlags wurde Michel Houellebecqs Zukunftsvision "Unterwerfung" veröffentlicht. Glauben Sie, dass auch der Roman die Terroristen provoziert hat?
Klaus Harpprecht: Es kann sein, dass ein kleiner psychologischer Hakenschlag den Anlass gegeben hat. Das ist möglich, weil die direkte Diskussion ein bisschen aufgeregt war, wie es hier in Frankreich leicht der Fall ist. Aber ich glaube, mit dem Phänomen des Terrorismus und in diesem Fall auch des gezielten Terrorismus haben wir zu rechnen.
Worauf gründen ihrer Ansicht nach die Motive des islamistischen Terrorismus?
Auf dem Zusammenstoß der Zivilisationen. Es liegt an dem Umbruch, den der Islam erlebt und dem sich gleichzeitig bestimmte Teile der Islamisten verweigern wollen. Sie reiben sich vor allem an der freien Meinungsäußerung. Deswegen diese extreme Empfindlichkeit gegenüber den damals in Dänemark zuerst veröffentlichten Karikaturen über den Propheten Mohammed. Diese Art Satire wurde im Grund von der Pariser Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" übernommen. Und das ist ein Stachel im Fleisch der islamistischen Fanatiker, weil es ihrem Weltbild zutiefst widerspricht. Es gab ja früher schon Anschläge auf die Zeitschrift. Es wurden die Büros verwüstet und es wurde auch einmal Feuer gelegt. Das ist eine alte Feindschaft. Man kann die Kollegen von "Charlie Hebdo" nicht hoch genug dafür preisen, dass sie sich davon nicht einschüchtern ließen.
Wie unterscheidet sich die Situation der muslimischen Bevölkerung in Frankreich von der in anderen Ländern, beispielsweise in Deutschland?
Ein großer Teil der muslimischen Bürger und Immigranten sind ganz gut integriert. Die Franzosen haben - im Unterschied zu den Deutschen - eine lange Erfahrung im Umgang mit der arabischen und der islamischen Welt. Und die Anpassung war oder ist im Allgemeinen nicht allzu schwierig. Allerdings kommt es im Zuge der darniederliegenden Wirtschaft des Landes zu großen sozialen Spannungen. In sie mischen sich auch Verzweiflung und Resignation. Dies gilt insbesondere für die Millionen von Arbeitslosen. Einige beschuldigen die Einwanderer, ihnen die Arbeit wegzunehmen, was allerdings kaum der Fall ist. Und das schafft natürlich ein Klima, in dem junge Fanatiker - und darum handelt es sich wohl bei den Attentätern - leicht zu einer solchen Tat veranlasst werden.
Es scheint also, als resultierten die Spannungen auch aus Verteilungskämpfen. Müsste die Wiederbelebung der heimischen Wirtschaft für die französische Regierung auch aus diesem Grund nicht oberste Priorität haben?
Es gibt leider keine klaren Pläne für eine Wiederbelebung der französischen Wirtschaft. Man sieht dem Prozess der Deindustrialisierung verzweifelt, aber mit einem Schulterzucken zu. Und man entwickelt kaum Alternativen. Es ist - mit Ausnahme von Ministerpräsidenten Manuel Valls - der jetzigen Regierung vorzuwerfen, dass sie mit den notwendigen Reformen nur sehr zögerlich begonnen hat. Das gilt auch für Staatspräsident François Hollande selbst, der immer nur den Ausgleich in seiner sehr zerrissenen sozialistischen Partei gesucht hat.
Hat die politische Kultur Frankreichs ihren früheren Glanz verloren?
Der Gedanke der Republik, der Gedanke an die Ideale der Französischen Revolution - die übrigens immer auch umstritten und bedroht waren - ist im Grunde genommen weiterhin präsent. Er kann im Augenblick nur nicht so strahlen, wie gewohnt, weil sich das ganze Land als Folge der wirtschaftlichen Verzweiflung eben in einem Zustand grauer Depression befindet. Darum hat es derzeit keine besondere Anziehungskraft. Aber die hat im Moment ganz Europa nicht.
Was wäre aus ihrer Sicht eine kluge Antwort auf die islamistische Herausforderung?
Die Mehrheit der französischen Bürger, die islamischen Glaubens sind, verabscheuen diesen Anschlag. Die große Mehrheit wendet sich von der Radikalisierung des Islam ab, genauso wie es die deutschen Bürger muslimischen Glaubens tun. Man wird versuchen, die fanatisierten Gruppen und Zellen zu isolieren. Die polizeiliche Überwachung, die Frankreich sowieso nicht von schlechten Eltern ist, wird wahrscheinlich zunehmen.
Man muss trotzdem damit rechnen, dass weitere Terroranschläge erfolgen. Angesichts dschihadistischer Gruppen, denen man beigebracht hat, dass Selbstmordattentate der direkte Weg ins Paradies sind, wird man Aktionen fanatischer und nicht sonderlich gebildeter Jugendlicher weiterhin rechnen müssen. Mit dem Phänomen dieses Terrors werden wir leben müssen. Den wird es geben, auch in Deutschland. Wir müssen uns darauf einrichten, uns mit radikalisierten Vertretern einer Religion auseinanderzusetzen, die in sich zerrissen ist und den Weg in das 21. Jahrhundert sucht.
Klaus Harpprecht ist Journalist und Autor. Von 1972 bis 1974 war er Redenschreiber von Bundeskanzler Willy Brand. Klaus Harpprecht lebt seit vielen Jahren in Südfrankreich.
Das Interview führte Kersten Knipp.