1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Deutschland leidet unter Hamsterkäufen

16. August 2021

Der Konjunktur-Boom nach der Corona-Rezession führt weltweit zu Hamsterkäufen von Unternehmen. Das hat vor allem für die deutsche Industrie spürbare Auswirkungen.

https://p.dw.com/p/3z2vC
Deutschland Rewe-Logistikzentrum
Bild: Gregor Fischer/dpa/picture-alliance

Im Rennen um dringend benötigte Rohstoffe und technische Komponenten haben europäische und deutsche Unternehmen immer öfter das Nachsehen, während die USA im Rennen um heiß begehrte Zulieferungen deutlich besser abschneiden. Das ist das Ergebnis einer Welthandelsstudie des Kreditversicherers Euler Hermes. Erklärt wird das Missverhältnis mit der zeitlich versetzten Erholung der Wirtschaft von den Folgen der Lockdowns in der Welt. Die US-Konjunktur kam im laufenden Jahr deutlich früher und kraftvoller wieder in Gang als in Europa. Die Folge: Warenlieferungen aus China in die USA legen derzeit um rund 30 Prozent zu, nach Europa hingegen nur um etwa zehn Prozent.

Wettrennen um Teile-Nachschub und Rohstoffe

"Hamsterkäufe sind aktuell in im globalen Handel", sagte der Chef von Euler Hermes in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Ron van het Hof. "Die USA haben im Rennen um die Waren dabei allerdings klar die Nase vorne". Das liege vor allem daran, dass die US-Wirtschaft deutlich früher wieder hochgefahren wurde.

Rund um die Welt versuchten Unternehmen händeringend, ihre Lagerbestände aufzufüllen. "Das ist aktuell allerdings kein Selbstläufer: Angesichts der anhaltenden Engpässe in der Versorgungskette, insbesondere bei den Schiffscontainern selbst, und den längsten Verspätungen seit einem Jahrzehnt steigen die Preise und damit Kosten des Welthandels im Galopp auf neue Rekordhöhen."

Symbolbild Export Containerschiff Schiff
Knapp bis ins Jahr 2022: Container- und Frachtschiffe, wie hier im chinesischen NantongBild: Congjun Xv/Zumapress/picture alliance

Deutsche Firmen verdoppeln Lagerbestand

Die meisten europäischen Länder und insbesondere Deutschland hätten in dieser Lage Mühe, ihre ohnehin niedrigen Lagerbestände wieder aufzufüllen. "Die Unternehmen verdoppeln ihren Lagerbestand", wird Lars- Peter Häfele, Geschäftsführer des auf Einkauf und Lieferketten spezialisierten Beraters Inverto im Handelsblatt zitiert. Aus Angst vor Versorgungsengpässen orderten viele Firmen aktuell mehr, als sie eigentlich brauchen, so Häfele. Hielten sie vor der Coronakrise im Schnitt Warenlager, die für drei bis sechs Monate Produktion ausreichen, seien es aktuell eher Waren für sechs bis zwölf Monate.

"Das verschärft die Situation massiv", sagte Häfele mit Blick auf Rohstoffpreise und Transportkosten. Dem Druck kann sich niemand entziehen: "In allen Branchen sehen sich Unternehmen aktuell mit Preiserhöhungen konfrontiert", so Häfele.

Welthandel: Erholung schnell und stark

Seit Jahresanfang hat sich der Welthandel schneller und stärker erholt als erwartet, insbesondere beim Wert der gehandelten Waren und Dienstleistungen. Für das Gesamtjahr 2021 dürfte sich dies fortsetzen und beim Volumen der gehandelten Waren und Dienstleistungen ein kräftiges Plus von 7,7 Prozent zu Buche stehen (2020: minus acht Prozent), wie es in der Euler Hermes-Studie "Ship me, if you can" heißt. Wegen anziehender Preise dürfte demnach der Wert von Waren und Serviceleistungen sogar um 15,9 Prozent zulegen (2020: minus 9,9 Prozent).

Grund für diesen Anstieg sei nur zu rund 15 Prozent die Normalisierung der Angebots- und Nachfragebedingungen. Die Aufstockung der Lagerbestände hingegen mache etwa 50 Prozent aus und die knappen Schiffskapazitäten mit den damit verbundenen hohen Preisen rund 35 Prozent.

Container und Schiffe bis mindestens 2022 knapp

Die knappen Schiffskapazitäten mit höheren Preisen machen nach den Berechnungen von Euler Hermes rund 35 Prozent aus. Containerreedereien verlangen derzeit kräftig steigende Preise für globale Gütertransporte, die zu rund 90 Prozent auf See abgewickelt werden. "Schiffskapazitäten dürften kurzfristig auch weiterhin knapp bleiben", sagte van het Hof. "Gründe dafür sind neben dem regional sehr ungleichmäßigen Aufschwung die unzureichenden Investitionen der letzten Jahre in der Seeschifffahrt." Weil Transportkapazitäten nicht kurzfristig aufgestockt werden können, rechnet er - wie auch Reedereien selbst - mit weiteren Engpässen bis ins Jahr 2022.

Taiwan High Tech | High-Tech/Halbleiter-Ingenieure
Chip-Produktion in TaiwanBild: Wally Santana/AP Photo/picture alliance

Deutsche Industrie besonders betroffen

Deutschland leidet besonders unter den Problemen, weil kaum eine Volkswirtschaft in der EU so stark global vernetzt ist wie die deutsche. Das zeigte sich bereits beim Wirtschaftswachstum der Eurozone im zweiten Quartal, das mit zwei Prozent sogar höher lag, als in den USA, wo die Wirtschaft im Vergleich zum Vorquartal um 1,6 Prozent wuchs, und in China, das im gleichen Zeitraum ein Wachstum von 1,3 Prozent verzeichnete.

Einige der höchsten Wachstumsraten wurden in Italien und Spanien verzeichnet, den Ländern, die am stärksten von der ersten Welle der Covid-19-Krise betroffen waren. Portugal verzeichnete einen besonders starken Anstieg von 4,9 Prozent.

Das Wachstum in Deutschland, der größten Volkswirtschaft der EU, hatte im zweiten Quartal mit "nur" 1,5 Prozent enttäuscht, während Frankreich nach einer Phase der Stagnation im Winter wieder ein solides Wachstum verzeichnete.

"Deutschland leidet als Motor der Automobilindustrie viel stärker unter internationalen Engpässen, weil es viel stärker von importierten Vorprodukten aus Südostasien und China abhängig ist", unterstrich Selin Ozyurt, Ökonomin bei Euler Hermes, Ende Juli bei der Vorlage der Wirtschaftsdaten für die Eurozone.

Deutschland Eröffnung der "Factory 56" von Mercedes in Sindelfingen
Produktion der S-Klasse von Mercedes im Werk SindelfingenBild: picture-alliance/dpa/S. Stein

Steigende Autopreise absehbar

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass viele Autobauer versuchen werden, die gestiegen Kosten für Vorprodukte und Komponenten an die Verbraucher weiterzureichen.

Die Preise für Autos könnten nach Einschätzung der Experten von Euler Hermes in den kommenden Monaten zwischen vier und zehn Prozent steigen. Wegen fehlender Halbleiter sei die Nachfrage höher als das Angebot: "Die europäischen und deutschen Autobauer sitzen durch die Chip-Knappheit aktuell am längeren Hebel", so Ron van het Hof. Eine Normalisierung sei erst im kommenden Jahr zu erwarten.

Die Autohersteller hätten jetzt eine einmalige Gelegenheit, die Preise nach fast 20 Jahren anzuheben und ihre Margen deutlich zu verbessern. "Drei bis sechs Prozent Preissteigerung sind europaweit deshalb aktuell drin." In Deutschland seien es sogar zwischen sechs und zehn Prozent. Nach den Corona-Lockdowns sei die Nachfrage gestiegen. Die Neuzulassungen in Europa hatten im ersten Halbjahr um 25 Prozent auf 5,4 Millionen Autos zugelegt.

"Diese Erholung sowie die steigende Preissetzungsmacht ist für die gesamte Branche ein Hoffnungsschimmer für die baldige Rückkehr in eine neue Normalität", sagte van het Hof. "Das ist auch für die Zulieferer ein wichtiges Signal." Um in Klimaschutz und neue Technik zu investieren, seien höhere Preise und Margen hilfreich.

tko/hb (dpa, afp, rtr - Archiv)