"Ausgangspunkt für Friedensverhandlungen"
2. Mai 2017DW: Die Erklärung der Hamas spricht von einem Palästinenserstaat in den Grenzen der Gebiete, die Israel 1967 besetzt hat. Gleichzeitig wird der Staat Israel nicht anerkannt, auch frühere Übereinkommen zwischen Israel und den Palästinensern werden nicht anerkannt. Es gibt auch keine Absage an Gewalt. Welche Bedeutung hat die Erklärung?
Beverley Milton-Edwards: Die Bedeutung der Erklärung liegt darin, dass die Hamas eine Beilegung des Konfliktes auf der Grundlage der Grenzen vom 4. Juni 1967 akzeptieren und damit dem Willen einer Mehrheit des palästinensischen Volkes entsprechen würde. Dies ist die einmütige Annahme dessen, was die Hamas oft als die "tatsächlichen Gegebenheiten" bezeichnet hat.
Im Grunde bedeutet das, dass die Hamas die Formel "Land für Frieden" der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates zur Beendigung des palästinensisch-israelischen Konfliktes anerkennt, obwohl sie weiterhin eine harte Linie vertritt, was die Anerkennung Israels angeht. Das ist ein wichtiger Ausgangspunkt für künftige Friedensverhandlungen, einer, den auch andere arabische Konfliktparteien wie Syrien, Ägypten und die PLO als Teil einer Formel zur Lösung der Konflikte und zur Schaffung des Friedens vertreten haben.
Es ist richtig: Hamas hat - wie entsprechende Organisationen in anderen Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt - ihr Recht zum Widerstand - auch mit der Waffe - bekräftigt. Aber es wäre naiv, eine einseitige Erklärung des Gewaltverzichts zu erwarten, während Israel weiterhin illegal palästinensische Gebiete besetzt hält und Gewalt gegen Palästinenser einsetzt: vor allem im Gazastreifen, wo bei Angriffen der israelischen Armee in den Jahren 2008, 2012 und 2014 mehr als 3500 Palästinenser ums Leben kamen. [Nach Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates ist Israel als Besatzungsmacht anzusehen - Red.]
Die - vorläufige - Beschränkung eines möglichen Palästinenserstaates auf die besetzten Gebiete entspricht der Politik der konkurrierenden Organisation Fatah von Palästinenserpräsident Ahmud Abbas. Ändert sich dadurch das Verhältnis zwischen den beiden Organisationen?
Die neue Erklärung ändert das Verhältnis zwischen Fatah und Hamas nicht wesentlich. Bei der Vorstellung kritisierte Hamas-Anführer Khaled Meshal die PLO - und die Fatah im besonderen - als "erstarrt" und reformfeindlich. Er beklagte, dass die Hamas immer noch von einer Rolle in der PLO als der "repräsentativen Organisation des palästinensischen Volkes innerhalb und außerhalb Palästinas" ausgeschlossen werde.
Er vertrat außerdem die Ansicht, dass es trotz vielfältiger Versuche der Hamas, den Zustand der Spaltung zwischen Hamas und Fatah durch ein Zusammentreffen in der Mitte zu beenden, keinen Fortschritt in dieser Sache gebe. Es ist offensichtlich, dass die offene Wunde der Spaltung Hamas und Fatah weiter behindern wird.
Khaled Meshal wird seinen Posten als Hamas-Anführer bald räumen. Spiegelt die Erklärung vor allem seinen Standpunkt wider und versucht er damit, seinen möglichen Nachfolger zu beeinflussen?
Obwohl Khaled Meshal seinen Posten verlassen wird und jeden Tag damit zu rechnen ist, dass sein Nachfolger benannt wird, ist klar, dass das Manifest nach weitgefächerten Beratungen und nicht nur mit der Zustimmung der Führungsmannschaft der Organisation fertiggestellt wurde, sondern auch mit dem Input von Juristen und Rechtsexperten. Auch wenn Meshal zurückgetreten ist, wird er mit Anleitungen und Ratschlägen seinem Nachfolger zur Seite stehen.
Israel zeigt sich nicht überzeugt. Ein Sprecher von Premierminister Netanjahu sagte: "Hamas versucht, die Welt in die Irre zu führen, aber das wird nicht gelingen." Bezweifelt Israel die Authentizität der Erklärung oder ihre Aufrichtigkeit?
Israel sieht Hamas weiterhin als existentielle Bedrohung seiner Sicherheit und als terroristische Gefahr an. Es äußert Zweifel an der Aufrichtigkeit von Hamas und ihrem Programm, nicht so sehr an der Echtheit der Erklärung. Israel sieht die Bedrohung, die von Hamas weiter ausgeht, und den Hamas-Beitrag zur regionalen Instabilität, mit der Israel im ganzen Nahen Osten konfrontiert ist.
Hamas verweigert sich weiterhin direkten Verhandlungen mit Israel. Ist also mit einem Fortschritt überhaupt zu rechnen?
Hamas schließt direkte Verhandlungen mit Israel vorläufig aus. Sie behauptet, dass Israel nie wirklich die Absicht hat erkennen lassen, solche Verhandlungen ernst zu nehmen. In dieser Hinsicht sprach Hamas-Anführer Khaled Meshal von Israels "betrügerischen" Plänen. Auf der anderen Seite gab es bedeutsame indirekte Verhandlungen zwischen Hamas und Israel, die von Ägypten vermittelt wurden. Das Ergebnis war ein dauerhafter Waffenstillstand im Hamas-kontrollierten Gazastreifen, der Austausch von Gefangenen und bestimmte Lockerungen in der israelischen Blockade dieser kleinen Küsten-Enklave mit ihren 1,9 Millionen palästinensischen Einwohnern.
Wie Sie sagten, war Ägypten in frühere Verhandlungen involviert, das Land also, in dem unter Präsident al-Sisi die Muslim-Bruderschaft verboten wurde. Ist das der Grund dafür, dass sich Hamas jetzt von den Muslimbrüdern distanziert?
Die Gründe für diese Distanzierung sind komplex und strategisch. Hamas sieht sich weiterhin als "Teil der gleichen Gedankenschule" wie die Muslim-Bruderschaft, aber in dem neuen Dokument kommt die frühere Erwähnung als "Flügel" der Bewegung nicht mehr vor. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Hamas sich aus den Umtrieben der inner-ägyptischen politischen Szene heraushalten und die Bezeichnung al-Sisis als Terroristen vermeiden möchte.
Hat die Erklärung eine Bedeutung im Zusammenhang mit dem geplanten Treffen zwischen Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und US-Präsident Donald Trump?
Die Erklärung und ihre Veröffentlichung kurz vor dem Washington-Besuch richtete sich direkt an Präsident Abbas. Abbas hegt die Hoffnung, dass die Trump-Regierung sich an Verhandlungen zwischen Palästinensern und Israel beteiligen wird. Hamas glaubt, dass das naiv ist. Stattdessen erklärt die Hamas, dass sie vorläufig Geduld bewahren will, während sie ihre Ziele 30 Jahre nach ihrer Gründung neu ausrichtet.
Beverley Milton-Edwards ist Politikwissenschaftlerin an der Queen's University im nordirischen Belfast und Gastprofessorin am Brookings Doha Center in Katar. Sie forscht zu Fragen der Sicherheit im Nahen Osten und zu den Herausforderungen des politischen Islam.
Das Interview führte Konstantin Klein.