Haiti zwischen Chaos und Aufbruch
Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti im Januar 2010 flossen Spenden in Milliardenhöhe. Zehn Jahre später bestimmen Armut und Korruption in dem Karibikstaat die Schlagzeilen. Doch es gibt Hoffnung auf Wandel.
Ein Land in Schutt und Asche
12. Januar 2010, kurz vor 17 Uhr: In dem karibischen Inselstaat Haiti bebt die Erde. Die Messgeräte zeigen eine Stärke von 7,0 auf der Richterskala an - die Zerstörung ist immens: Mancherorts stürzen 90 Prozent der Gebäude ein. Mindestens 200.000 Menschen sterben, mehr als eine Million werden obdachlos. Der Schaden übersteigt mit 6,6 Milliarden US-Dollar das Bruttoinlandsprodukt des Landes.
Katastrophe im Krisenstaat
Januar 2011: Kreuze auf einem Massengrab nahe der Hauptstadt Port-au-Prince. Das Erdbeben traf einen ohnehin schon krisengeplagten Staat: Haiti war 2010 - und ist es heute noch - das ärmste Land der westlichen Hemisphäre, litt unter Überbevölkerung und Korruption. Naturkatastrophen waren keine Seltenheit. Eine auf das Erdbeben folgende Cholera-Epidemie tötete Tausende weitere Menschen.
Weltweite Solidarität
Ein unbekümmerter Moment in einem Camp für Erdbebenopfer im März 2010. Die UN, NGOs, Privatpersonen halfen: Aus aller Welt flossen Gelder für den Wiederaufbau. Auf lokaler Ebene hätten viele Hilfsorganisationen effektive Arbeit geleistet, etwa durch den Bau von Häusern, sagt Bert Hoffmann, Politologe am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA), im Gespräch mit der DW.
Problematische Hilfe
In der Notlage unmittelbar nach dem Erdbeben hätten US-Nahrungsmittelspenden den Betroffenen kurzfristig geholfen, erklärt Hoffmann. "Doch langfristig hat der kostenlose Reis aus den USA die Reisbauern in Haiti massiv in die Pleite getrieben. Solche Art von Hilfe hat keine zukunftsfähigen Strukturen für das Land geschaffen und die Abhängigkeit verstärkt."
Die Krise nach der Krise
Warten auf Arbeit: Zehn Jahre nach dem Erdbeben hat sich die Lebensqualität der meisten Haitianer nicht verbessert - im Gegenteil. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze von zwei US-Dollar am Tag. 35 Prozent sind laut Welthungerhilfe auf Nahrungsmittelspenden angewiesen. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen beklagt eine mangelhafte medizinische Grundversorgung.
Tödliche Proteste
Massenarbeitslosigkeit, Inflation, Kriminalität und Vetternwirtschaft treiben die Haitianer seit eineinhalb Jahren immer wieder auf die Straße - wie hier im November 2019. Bei Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten kamen bereits zahlreiche Menschen ums Leben. "In Haiti wächst die Gefahr eines Bürgerkriegs", warnte jüngst Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer des Hilfswerks Misereor.
Moïse will nicht gehen
Gegen ihn richtet sich die Wut: Präsident Jovenel Moïse (M.), seit 2017 im Amt. Die Opposition wirft ihm unter anderem vor, Gelder aus einem Solidaritätsfond veruntreut zu haben. Moïse weist den Vorwurf zurück und lehnt einen Rücktritt ab. Wenn das Parlament am 13. Januar wieder zusammenkommt, wird das Mandat der meisten Abgeordneten ausgelaufen sein - Moïse könnte theoretisch per Dekret regieren.
Kommt der Wandel?
Die Opposition ist zersplittert, doch Aktivisten wollen weiter für Veränderungen kämpfen. "Wir brauchen eine Regierung, die auf unsere Bedürfnisse eingeht", sagt der 31-Jährige Rese Domini (Bild) von der Organisation MONEGAF. Die 39-jährige Aktivistin Velina Charlier sagte der DW im Dezember, sie fordere "Moïses Rücktritt, einen Antikorruptionsprozess und einen radikalen Wandel des Systems".
"Europa schweigt"
Unterdessen fordern Hilfsorganisationen die internationale Staatengemeinschaft zum Handeln auf. Bei der Nahrungsmittelhilfe sollten lokale Produkte Vorrang haben, "um die heimische Wirtschaft anzukurbeln", erklärte die Welthungerhilfe im November. Deutschland und die Europäische Union müssten sich zudem für einen politischen Umbruch in Haiti einsetzen, fordert Misereor-Chef Spiegel.
"Haiti ist nicht die Hölle auf Erden"
Dezember 2019, Port-au-Prince: Zwei Freundinnen am Strand. Die anhaltende Krise dürfe nicht den Blick darauf verstellen, dass es in Haiti "viele familiäre und lokale Strukturen gibt, die funktionieren", sagt Politikwissenschaftler Hoffmann. Der Karibikstaat sei "nicht die Hölle auf Erden. Es ist ein sehr armes, aber ein in aller Regel friedliches Land mit einer großen Kultur".