Haiti-Expertin: Kidnapping sehr präsent
18. Oktober 2021Mehr als 600 Menschen wurden in diesem Jahr bereits in Haiti entführt - mehr als doppelt so viele wie im gesamten Vorjahr. Am Samstag traf es 17 Menschen aus den USA und Kanada, darunter Mitarbeiter einer christlich-missionarischen Hilfsorganisation. Offenbar wurden sie im Viertel Croix des Bouquets in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince gekidnappt, wo die Gang "400 Mawozo" das Sagen hat.
Bandenkriminalität ist in Haiti kein neues, aber ein wachsendes Problem, begünstigt von der Schwäche des Staates. Der befindet sich nicht erst seit dem Mord an Präsident Jovenel Moïse und einem schweren Erdbeben im Süden des Landes in der Krise. Daniela Simm koordiniert die Arbeit der Diakonie Katastrophenhilfe in Lateinamerika und der Karibik. Die DW hat mit ihr über die Bedrohungslage gesprochen und sie gefragt, was Hilfsorganisationen tun können, um das Risiko zu minimieren.
Frau Simm, wie präsent ist die Bedrohung für die Menschen in Haiti?
Die Bedrohung ist durchaus präsent, sie ist aber nur ein Teil der Gemengelage. Die politische Instabilität, die hohe Kriminalitätsrate treffen zusammen mit anderen Risiken wie Erdbeben, COVID-19 und Tropenstürmen. Umso mehr besorgt uns, dass nun auch noch die Anzahl der Entführungen derart steigen. Das Klima der Unsicherheit durch Bandenkriminalität ist teilweise so groß, dass Menschen aus ihren Häusern fliehen und sich aus bestimmten Vierteln zurückziehen.
Mit Blick auf die Entführung hatte der Berufsverband der Kraftfahrer für Montag zu einem landesweiten Streik aufgerufen, um auf die wachsende Unsicherheit aufmerksam zu machen. Entsprechend waren die Straßen heute wie leer gefegt. Unseren Mitarbeitenden haben wir deshalb gesagt, dass sie zu Hause bleiben können, wenn ihnen der Weg zur Arbeit heute nicht möglich oder zu unsicher ist.
Die Mehrheit Ihrer Mitarbeiter in Haiti sind Einheimische. Wissen die selbst am besten, wie sie sich vor der Gewalt schützen, oder tun Sie aktiv etwas für ihre Sicherheit?
Als Haitianer ist man nicht per se besser vor Gefahren geschützt. Allerdings ist die Situation so volatil, dass man schon vor Ort sein muss, um einigermaßen zu wissen, wo es gerade unsicher ist. Hier setzt auch einer von drei Punkten an, die wir für sehr wichtig halten, nämlich der ständige Austausch von Informationen in Sicherheitsnetzwerken. Das heißt: Man tauscht sich zum Beispiel in einer WhatsApp-Gruppe darüber aus, wo gerade ein Stau ist, wenn in einem Viertel Schüsse gefallen sind oder wo Straßenblockaden sind. Denn das Beste, was man machen kann, ist Gefahren aus dem Weg zu gehen.
Welches sind die anderen beiden Punkte?
Der zweite Punkt sind sogenannte "Health, Safety and Security"-Pläne, die wir unseren Mitarbeitern an die Hand geben. Das sind zum Beispiel Informationen darüber, wie Gebäude gesichert werden oder welche Fahrzeuge und Wege für welche Strecken benutzt werden. In bestimmte Projektgebiete im Süden Haitis, wo im August das Erdbeben war, reisen unsere Mitarbeitenden derzeit nur mit dem Flugzeug, weil die Landwege aus Port-au-Prince dorthin zu unsicher sind.
Der dritte Aspekt ist das Sensibilisieren und Trainieren. Da geht es darum, Situationen richtig einzuschätzen und sich entsprechend zu verhalten. Damit wollen wir einerseits vermeiden, dass sich Menschen an gewisse Zustände gewöhnen und dadurch Gefahren unterschätzen. Andererseits geht es auch darum zu trainieren, wie man sich am besten verhält, wenn man beispielsweise in einen Schusswechsel gerät.
Sind Menschen, die - wie die 17 Missionare, aber auch Ihre Mitarbeiter - für ausländische Organisationen arbeiten, besonders gefährdet, Opfer von Überfällen oder Entführungen zu werden?
Unser Eindruck ist, dass die Bedrohung alle Teile der Gesellschaft in ähnlichem Maße betrifft. Es sind eher bestimmte Situationen, in denen man Gefahren in besonderem Maße im Blick haben muss. Zum Beispiel raten wir dringend davon ab, auf der Straße Geld zu tauschen. Das ist in Haiti gang und gäbe, weil man viele Dinge nur mit US-Dollar kaufen kann. Aber wer auf offener Straße mit größeren Geldsummen hantiert, macht sich selbst zum Ziel.
Das Regionalbüro der Diakonie Katastrophenhilfe befindet sich Bogotá. Kolumbien ist - spätestens seit der Entführung der Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt - berüchtigt für kriminelle Organisationen, die Geiseln nehmen, um Lösegeld oder auch politische Forderungen zu erpressen. Kann man das mit der Situation in Haiti vergleichen?
In Haiti hat das schon eine etwas andere Dynamik. Zum einen liegen die rechtsfreien Räume in Haiti mitten in der Hauptstadt; in Kolumbien liegen sie eher in entlegenen Gebieten, in denen Drogen produziert oder Edelmetalle abgebaut werden. Damit meine ich in beiden Fällen nicht die - in Anführungszeichen - normale Kriminalität, sondern organisierte Banden, die bestimmte Gebiete regelrecht dominieren.
Die Gemeinsamkeit ist aber, dass in beiden Ländern der Staat die Bevölkerung nicht in ausreichendem Maße schützt. Und das ist sicher ein durchgängiges Problem in der gesamten Region, insbesondere in Zentralamerika.
Daniela Simm ist Kontinentalverantwortliche für Lateinamerika und die Karibik der Diakonie Katastrophenhilfe.
Das Interview führte Jan D. Walter.