Der vom Kreml-Diktator Wladimir Putin vom Zaun gebrochene Ukraine-Krieg hat Europa gezwungen, sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl zu befreien. Doch die Schockwelle und die Kosten, die der Krieg verursacht hat, wären nichts im Vergleich zu dem, was zu befürchten stünde, wenn die USA von ihren europäischen Verbündeten verlangen würden, sich auch von China wirtschaftlich völlig zu entflechten.
Im Bereich der Chipindustrie ist diese Entkoppelung bereits voll im Gange. Künftig dürfen keine Produkte mehr nach China exportiert werden, wenn in den Maschinen, die für die Herstellung der darin enthaltenen Mikrochips genutzt wurden, Komponenten aus den USA verbaut sind. Das ergibt auf der einen Seite Sinn, weil die Volksrepublik diese Chips für ihre Kriegsmaschinerie nutzen könnte. (Gerade hat Peking einen neuerlichen Anstieg seiner Militärausgaben um 7,2 Prozent im Jahr 2023 angekündigt.)
Keine Überlebenschance ohne China
Die Niederlande haben den Schritt der USA bereits nachvollzogen und entkoppeln sich ebenfalls, was auch finanzielle Verluste für das Land und seine Firmen bedeuten kann. Deutsche Unternehmen wie VW und BASF, die ohne den chinesischen Markt gar nicht mehr überleben können, bauen hingegen an einer Art paralleler Konzerne in China, die mit dem, was in der freien Welt produziert wird, nur noch wenig zu tun haben werden. Das ist der Nachteil einer solchen Entkoppelungsstrategie.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat deshalb jetzt angekündigt, zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach China zu reisen. In Brüssel wird kolportiert, dass China zwar gewiss nicht perfekt sei, man es aber in Zukunft vielleicht einmal brauchen könne. Im politischen Berlin dürfte die Erinnerung an die Finanzkrise 2008 noch nicht ganz verblasst sein, als Peking ein Investitionspaket in Höhe von 460 Milliarden Euro für Straßen und Infrastruktur auflegte, das der deutschen Exportwirtschaft extrem gelegen kam.
China hat Deutschland damals geholfen, unter Donald Trump hingegen war das Verhältnis zwischen Berlin und Washington eisig. In den USA wird nächstes Jahr wieder gewählt und sowohl Donald Trump als auch sein parteiinterner Rivale Ron DeSantis stimmen protektionistische und isolationistische Töne an. Brüssel, Berlin und Paris sollten perspektivisch daher nicht nur auf die USA setzen.
Sammlung der von den USA enttäuschten Partner
Gewinner dieser Entwicklung ist die Volksrepublik. Nicht nur, dass sie der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) beitreten will, dem transpazifischen Freihandelsabkommen, aus dem die USA ausgeschert sind. Peking hat es verstanden, Länder um sich zu scharen, die von den USA und ihren Verbündeten enttäuscht sind. In der Shanghai Cooperation Organization ist neben allen Ländern Zentralasiens auch Indien vertreten, die nominell größte Demokratie der Welt. Die Türkei gehört zu den Dialogpartnern. Peking führt darüber hinaus Gespräche mit Teheran über einen Status. Auch Russland ist Mitglied.
Im Zuge des Besuchs von Xi Jinping in Moskau in der vergangenen Woche hat Machthaber Putin angekündigt, in Zukunft alle Öl- und Gasgeschäfte mit der Volksrepublik in chinesischen Yuan abwickeln zu wollen. China arbeitet schon eine Weile daran, dass seine Währung zur Leitwährung Nummer Eins auf der Welt wird und den US-Dollar verdrängt. Das hätte zur Folge, dass Diktaturen und Kriegsverbrecher nicht mehr automatisch von Sanktionen durch die USA getroffen werden könnten. Die russische Wirtschaft leidet zwar unter den Sanktionen, die wegen des Einmarschs in die Ukraine verhängt wurden. Aber ohne den Tropf des chinesischen Yuan, an dem Russland hängt, ginge es noch schlechter.
Über den Tag hinaus denken
In der globalisierten Welt hängt alles mit allem zusammen, was bedeutet, dass man Allianzen schmieden muss, die über den Tag hinaus Sinn ergeben. In Brüssel und Paris setzt ein neues Denken ein, dass man sich nicht auf Gedeih und Verderb von der Volksrepublik entkoppeln sollte. Auch China denkt bei seinem diplomatischen Tun über den Tag hinaus: Der diplomatische Coup, der Peking gelungen ist, als es die Erzfeinde Iran und Saudi-Arabien wieder in diplomatische Nähe zueinander holte, sollte mittel- bis langfristig an Bedeutung nicht unterschätzt werden. Die Diplomatie zwischen China und dem europäischen Teil der freien Welt darf nicht abreißen - auch wenn Washington dies gerne sehen würde. Denn am Ende darf Europa nicht ohne alternative Optionen dastehen.
Alexander Görlach ist Senior Fellow am Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Adjunct Professor an der Gallatin School der New York University, wo er Demokratietheorie unterrichtet. Nach Aufenthalten in Taiwan und Hongkong wurde diese Weltregion, besonders der Aufstieg Chinas und was er für die Demokratien in Asien bedeutet, zu seinem Kernthema. Er hatte verschiedene Positionen an der Harvard Universität und den Universitäten von Cambridge und Oxford inne. Alexander Görlach lebt in New York und in Berlin.