Guter Rat in den Wind
12. November 2014Es ist seit 46 Jahren fast jedes Mal das gleiche Ritual: Der von der Regierung per Gesetz gebildete Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, im Volksmund die fünf Weisen genannt, legt Mitte November sein Jahresgutachten vor. Darin spart dieses unabhängige Gremium nicht mit Kritik an der jeweiligen Regierung, vor allem dann, wenn wieder einmal die Chance zu Reformen verpasst wurde oder sich politisches Handeln als Wachstumsbremse erweist.
Der jeweilige Regierungschef bedankt sich dann artig bei der Entgegennahme des Jahresgutachtens, lächelt gequält in die Kameras und lässt anschließend das mehrere hundert Seiten dicke Werk in der Schublade verschwinden. So geht das seit über 40 Jahren, und es gibt keinen Anlass zu glauben, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem jüngsten Gutachten anders verfährt, obwohl sie auf ihrem Flug nach Neuseeland und anschließend zum G 20-Gipfel im australischen Brisbane Zeit genug für eine intensive Lektüre hätte.
Und auch Grund genug, wenn man bedenkt, wie viele wachstumshemmende Sünden der Sachverständigenrat auflistet: Mindestlohn, Mütterrente, Rente mit 63 Jahren. Süffisant merken die fünf Weisen an, dass die Regierung mit der abschlagfreien Rente ab 63 und der Ausweitung der Mütterrente ihre wirtschaftspolitischen Spielräume "ausgiebig genutzt" habe. Indes: "Eine wirtschaftliche Aufbruchstimmung hat die Große Koalition jedenfalls bislang nicht erzeugt", merken die Autoren an - zu recht.
Denn es wird sich sehr bald herausstellen, dass diese Schönwettergeschenke von der wirtschaftlichen Realität eingeholt werden. Sprich: Ihre Finanzierung ist nicht mehr gesichert, wenn, wie es sich abzeichnet, die Wachstumsraten und die Steuereinnahmen erheblich niedriger ausfallen als noch im Frühjahr angenommen. Noch nie war ein Rentenpaket so teuer und ökonomisch so sinnlos und unangebracht. Es hat die Belastung, die durch die alternde Gesellschaft künftig auf die Rentenkassen zu kommen wird, noch einmal erheblich verschärft.
Auch bei den Einnahmen wägt sich die Regierung in trügerischer Sicherheit: Sie profitiert momentan immer noch von der so genannten kalten Progression, also von der Tatsache, dass der Staat von jedem zusätzlich erwirtschafteten Euro einen stetig wachsenden, überproportional großen Anteil kassiert - was die fünf Weisen zu recht kritisieren: Diese verdeckte Mehrbelastung sollte abgemildert werden.
Zudem profitieren die öffentlichen Kassen momentan von niedrigen Zinsen, gestiegener Beschäftigung und dem, was die fünf Weisen eine "demographische Atempause" nennen, weil die geburtenstarken Jahrgänge erst in einigen Jahren in Rente gehen. Allerdings warnt der Sachverständigenrat eindringlich: "Aktuelle Projektionen verdeutlichen, dass die öffentlichen Finanzen angesichts des demographischen Wandels langfristig nicht tragfähig sind." Deutlicher kann man kaum werden.
"Mehr Vertrauen in die Marktprozesse" überschreiben die Fünf ihr Jahresgutachten, und wie ein roter Faden zieht sich durch das Gutachten die Mahnung, dass man es mit der Umverteilungspolitik auch übertreiben könne und dem Markt mehr Vertrauen schenken solle. Das gilt auch für den Arbeitsmarkt, auf dem ab dem nächsten Jahr ein flächendeckender Mindestlohn gelten soll. Das sei ein Experiment mit ungewissem Ausgang und verschlechtere die Chancen für Berufseinsteiger und gering qualifizierte Menschen, überhaupt eine Beschäftigung zu finden.
Alles in allem stellen die fünf Weisen der Regierung in Sachen Energie-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik schlechte, bestenfalls mäßige Noten aus. Gestört freilich hat das eine Regierung noch nie seit der Gründung des Rates im Jahr 1963. Warum sollte es diesmal anders sein?
Kanzlerin Merkel jedenfalls wundert sich, wie der Mindestlohn, der erst im nächsten Jahr in Kraft tritt, schon jetzt eine konjunkturelle Dämpfung erzeugen kann. Eine ziemlich niveaulose Bemerkung, die nicht nur den intellektuellen Gehalt des Gutachtens diskreditiert, sondern auch zeigt, dass der Kanzlerin eine Nachhilfestunde in Wirtschaftspsychologie nicht schaden würde. Schließlich führt jede wirtschaftpolitische Dummheit, die die Regierung für die Zukunft ankündigt, schon jetzt zur äußersten Zurückhaltung bei den Unternehmen, was Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze angeht.