"Sie glauben, das Volk frisst alles"
23. Juli 2019DW: Herr Gudkow, Sie waren 2016 der einzige kremlkritische Abgeordnete im russischen Parlament. Jetzt möchten Sie mit ihrer "Partei der Veränderungen" ins Moskauer Stadtparlament einziehen. Sie dürfen aber nicht - so wie 18 andere unabhängige Kandidaten auch. Was stört die Wahlkommission an Ihnen?
Dmitri Gudkow: Meine Chance auf den Sieg. So wie bei den anderen auch. Wir hatten schon die halbe Wahlkampagne hinter uns. Für einen Sieg in einem Wahlbezirk bräuchte ich als Kandidat 12.000 Stimmen. Ich hatte aber bereits 7500 reale Wählerunterschriften. Das wären 60 Prozent des Erfolgs. Die Mosgorduma hat 45 Sitze. Wir wären 19 unabhängige Kandidaten, die im Fall einer vereinten Wahlkampagne hätten gewinnen können. Nehmen Sie dazu sieben bis acht Kandidaten der so genannten Systemopposition und Sie bekommen eine oppositionelle Mehrheit.
Aus Sicht der Regierungsbehörden also eine logische Entscheidung, die Sie nicht überrascht hat?
Genau. Denn das hätte deren Machtverlust bedeutet. Die Mosgorduma wäre in diesem Fall ein echtes demokratisches Parlament geworden, das 2,6 Trillionen Rubel (umgerechnet rund 37 Milliarden Euro) verwaltet. Das ist viel Geld, das in dieser Stadt normalerweise geplündert wird. Die Behörden bekamen Angst und ließen uns auf unverschämte Art und Weise nicht zur Wahl zu.
Was ist daran so unverschämt?
Unverschämt ist, dass ein Polizei-Graphologe Ihnen plötzlich sagt, dass 499 Unterschriften Fake sind. Gefälscht. Oder wenn in der Datenbank Ihrer potentiellen Wähler plötzlich absurde Fehler auftauchen: Name: männlich, aber Geschlecht: weiblich.
Aber das wären ja so offensichtliche Manipulationen, dass kein Mensch daran glauben kann. Wenn sie tatsächlich stattfanden, was war das Kalkül der Behörden?
Die Behörden leben nach einem Prinzip, das in diesem Land bereits in den 1990er Jahren ausgerufen wurde: Das Volk frisst alles. Sie glaubten also, die Moskauer würden das schon schlucken.
Sie wollen es aber nicht schlucken und organisieren Proteste. Schon die Entscheidung, Sie nicht zuzulassen, trieb mehr als 10.000 Menschen auf die Straße. Was wollen Sie erreichen?
Wir unternehmen alles, was wir können. Zuerst auf dem Rechtsweg. Wir reichen Widersprüche und Beschwerden bei Kommissionen und Gerichten ein. Aber die Menschen gehen auch auf die Straße. Versetzen Sie sich in ihre Lage! Jeder von uns Kandidaten ging persönlich mit seinen Wahlhelfern durch die Bezirke und warb um reale Wähler-Unterschriften. Die Menschen sahen uns und wussten: Ok, es gibt da einen Gudkow. Der ist echt und hat ein echtes Team. Er sammelt Unterschriften. Wir haben ihn unterstützt, ihm unsere Unterschrift gegeben. Und plötzlich: Wums! Nix Gudkow, sagt man diesen Menschen, der steht überhaupt nicht auf der Liste. Stattdessen taucht ein Regierungskandidat auf, den niemand vorher gesehen hat.
Glauben Sie, Ihre Proteste können wirklich etwas verändern?
Wir wollen wirklich etwas erreichen. Wenn sie uns weiter so unverschämt von der Wahl ausschließen, werden wir für die Abschaffung dieser Wahl kämpfen. Oder für die Auflösung der Mosgorduma. Ich bin kein Fan der Proteste. Ich mag sie eigentlich überhaupt nicht. Ich bin müde davon. Aber ich habe keine andere Wahl.
Die Situation ist insofern seltsam, als die Popularität der Regierungspartei gerade auf einem Tiefstand ist. Sogar der Parteivorsitzende Dmitri Medwedew kritisiert "Einiges Russland". Deren Kandidaten verschweigen ihre Parteizugehörigkeit, lassen im Wahlkampf jegliche Parteisymbolik weg. Spielt Ihnen das in die Hände?
Natürlich. Und es war für mich einfach, Unterschriften zu sammeln. Ich ging auf die Menschen zu und sagte, seid für uns und gegen "Einiges Russland”. Die Menschen blieben stehen und gaben mir ihre Unterschrift. Andererseits aber gilt leider das Prinzip: je niedriger die Umfragewerte der Regierungspartei, desto repressiver die Behörden. Das bedeutet ständige Provokationen gegen uns. Meine Wahlhelfer wurden mehrmals überfallen. Einer wurde verprügelt und erlitt eine Gehirnerschütterung. Der andere kam mit einer blutenden Lippe davon. Die unterschriebenen Listen wurden ihnen aus der Hand gerissen.
Wenn man sich insgesamt die russische Politik anschaut, kriegt man den Eindruck, dass es einen allmächtigen Präsidenten Wladimir Putin gibt, den die Russen ständig wählen, aber keine echte funktionierende Opposition. Warum?
Es gibt eine Opposition in Russland. Zum einen sind das Menschen, die mit ihren investigativen Enthüllungen gegen die Korruption kämpfen: Politiker und Aktivisten…
...wie Alexej Nawalny?
Unter anderem. Alexej Nawalny, Ilja Jaschin, Dmitri Gudkow… Es gibt aber auch eine zweite Opposition. Das sind einfache Bürger, die zum Beispiel gegen giftige Müllverbrennungsanlagen kämpfen. Oder Journalisten, die für die Freiheit ihres Kollegen Iwan Golunow kämpfen (den die Polizei neulich illegal wegen angeblichem Drogenbesitz verhaftete - Anm. d. Red.). Diese Menschen sind unzufrieden mit der Lage im Land.
Eine echte Bürgergesellschaft?
...die in unserem Land immer mächtiger wird. Wir erleben gerade eine Politisierung der Gesellschaft. Die Politik kommt zu jedem von uns nach Hause. Schauen Sie sich die jungen Leute an. Die sind empört, weil die Behörden ständig davon reden, die Internetzensur einführen zu wollen. Dabei sehen diese jungen Leute auf der anderen Seite politische Dinosaurier wie etwa Alexander Bastrykin, den Chef des russischen Ermittlungskomitees, der mit einer Lupe auf das Internet guckt oder Wladimir Putin, der kein Smartphone bedienen und nicht zwischen Transgender und Transformer unterscheiden kann. Diese jungen Leute sind eine Bürgergesellschaft, die will, dass die Alten abhauen. Das ist also auch Opposition in Russland. Eines Tages werden sich Oppositon eins und Opposition zwei vereinigen und unser Land verändern.