Grün-gelbe Rebellion
6. Juli 2014Der zivile Ungehorsam begann vor genau einem Jahr beim Confederations Cup. Als die Lautsprecher verstummten, sangen die brasilianischen Fans ihre Nationalhymne einfach A-Cappella weiter. Auch bei der WM lassen sie keine Gelegenheit aus, um auf patriotische Weise gegen die Fifa oder die eigene Regierung zu protestieren. "Mit dem A-Cappella-Gesang weigern wir uns, die Vorschrift der Fifa zu befolgen, nach der nur ein Teil der jeweiligen Nationalhymne abgespielt wird", meint Jorge Maranhão, Direktor des Institutes "Die Stimme des Staatsbürgers" aus Rio de Janeiro. Diese Art der Rebellion zeige den aktuellen Umgang mit politischen Bürgerrechten in Brasilien.
Aufschrei vor laufenden Kameras
"Bei den Massendemonstrationen im Juni 2013 haben wir gezeigt, was wir von Regierungsvertretern halten, die Geld für zwölf Stadien ausgeben, statt in öffentliche Dienstleistungen zu investieren", erklärt Maranhão. "Auch dieser absolut friedliche zivile Ungehorsam vor den Augen der ganzen Welt ist mehr als angebracht."
Der "Aufschrei eines heroischen Volkes", der in der Nationalhymne von Joaquim Osório Duque Estrada aus dem Jahr 1909 besungen wird, hat das ganze Land erfasst. Die Brasilianer nutzen die WM nicht nur als Auszeit vom Alltag. Sie wehren sich auch dagegen, dass ihr unbefangener, positiver Patriotismus politisch vereinnahmt wird, egal von wem.
"Die Nationalhymne bildet Brasilien ab, wie es ist: Ein großes, wunderschönes Land mit viel menschlichem Leid und großen Hoffnungen", meint Filmproduzent Marcela Parede, der die Partie Brasilien gegen Kolumbien auf dem Straßenfest "Alzirão" in Rio de Janeiro verfolgt hat. Gerade die auswärtigen WM-Besucher würden Brasilien wertschätzen. "Das sollte unsere Regierung auch tun", meint er.
Erst WM, dann Wahlen
Ausgerechnet während der WM scheint der brasilianische Patriotismus ungeahnte Formen anzunehmen. Die Siege der Seleção fesseln die Fußballfans. Sie feuern ihre Spieler so inbrünstig an, als müsste Brasilien erneut um seine Unabhängigkeit kämpfen, die das Land am 7. September 1822 ausrief und die in der Nationalhymne besungen wird.
Doch sobald das Spiel vorbei ist, verstummen die Jubelrufe und der Sturm der Begeisterung legt sich. Diszipliniert und auffällig ruhig treten die meisten Fans ihren Heimweg an, lediglich ein Lächeln auf dem Gesicht verrät ihre Zufriedenheit. Fast scheint die Sorge um einen reibungslosen Ablauf der WM größer zu sein als die Sehnsucht nach einem triumphalen Endspiel im Maracana.
Patriotismus schlägt WM
"Vielleicht ist dies nicht Brasiliens WM, hier findet gerade eine Revolution statt", meint ein Mitarbeiter des brasilianischen Fernsehsenders Sport TV, der namentlich nicht genannt werden möchte. Aus Liebe zu ihrem Land würden viele Brasilianer sogar ihre Fußballleidenschaft vernachlässigen. "Der Patriotismus wird zunehmen, wenn Brasilien die WM verliert", prophezeit er.
"Patria amada" - das geliebte Vaterland ist den 200 Millionen Einwohnern Brasiliens heilig. Heiliger als die WM und Wahlen. Wenn sie ihre Hymne intonieren, feiern sie sich selbst. Wenn sie von "der Sonne der Freiheit" singen, "die am Himmel glänzt", hoffen sie auf eine bessere Zukunft. Patriotismus auf brasilianisch.