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Großvater und der Erste Weltkrieg

Sarah Judith Hofmann (Text) / Laura Döing (Video)1. Februar 2014

Hundert Jahre liegt der Erste Weltkrieg zurück. Die Zeitzeugen sind gestorben. Doch Fotos, Briefe, sogar Bajonette schlummern noch in privaten Speichern. Ein europaweites Crowdsourcing-Projekt macht diese öffentlich.

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Joseph Aloisius Drauschke, Fahrer im Ersten Weltkrieg (Foto: Facts & Files)
Joseph Aloisius Drauschke, Fahrer im Ersten WeltkriegBild: Facts & Files

Die Schätze vom Dachboden

Eine braune Aktentasche aus Leder in der Hand, steht Christine Sörje in der Eingangshalle der Berliner Staatsbibliothek und wartet darauf, den Inhalt dieser Tasche endlich auspacken, ja endlich jemandem zeigen zu können. Etwas nervös rückt sie ihre Brille zurecht, schaut auf die Uhr: Punkt zehn. In der großen Halle, die sonst kalt und leer wirkt, ist heute mit Sperrband ein Quadrat abgesteckt. Im vorderen Bereich stehen in zwei Reihen Tische, im hinteren Teil große Scanner. Es ist ein so genannter "Aktionstag". Ausgerufen hat ihn die europaweite Initiative "Europeana 1914 – 1918". Jeder, der möchte, kann hier private Dokumente aus dem Ersten Weltkrieg digitalisieren lassen und damit der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.

Fotos wie aus dem Urlaub

Und Christine Sörje möchte, sogar unbedingt. Endlich wird sie hereingerufen, darf Platz nehmen neben Simon Renkert und ihm – dem heutigen Digital-Archivar und studiertem Historiker – zeigen, was sie mitgebracht hat: Päckchen von Fotos, Postkarten, Zeichnungen, Briefe, Tagebücher. Erinnerungsstücke aus dem Ersten Weltkrieg. Es ist der Nachlass von zwei Großvätern, einer Großmutter, einem Großonkel.

Simon Renkert nimmt die Daten der Verwandten auf: Kurt Kässler, geboren am 30. Dezember 1896, 1915 in den Krieg eingezogen, "freiwillig gemeldet", glaubt Enkeltochter Sörje. Und beginnt zu erzählen vom geliebten Großvater Kurt, der zunächst an der Westfront in Frankreich kämpfte, später dann in Mazedonien als Funker eingesetzt war und dort privat viel fotografierte: Menschen auf Märkten, Frauen in Trachten, Berge, Natur. Fotos wie aus dem Urlaub. Frontkämpfe zeigen die Bilder nicht. "Mich hat diese offene Neugier überrascht, dass man anerkennt, in einem fremden Land zu sein, den Menschen mit Interesse zuschaut, ohne Wertung. Diese Haltung scheint danach völlig verloren gegangen zu sein", meint Sörje. Dass Deutschland 1918 den Krieg verloren hatte wollte der Großvater nicht wahrhaben, wurde schon früh NSDAP-Mitglied, später SS-Offizier.

Christine Sörje und Simon Renkert (Foto: DW)
Christine Sörje und Simon RenkertBild: DW/S. Hofmann

Europaweit: Von Frankreich bis Zypern

Es ist deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Christine Sörje da ausbreitet auf diesem Tisch in der Staatsbibliothek. Die sie Simon Renkert erzählt, der vom Alter her ihr Sohn sein könnte, und der nun dafür sorgt, dass bald jeder per Mausklick die Geschichte dieser Familie nachlesen und in Dokumenten betrachten kann. Und nicht nur dieser, sondern zehntausender Familien – aus ganz Europa.

"Europeana 1914 – 1918" ist ein gigantisches digitales Museum zum Ersten Weltkrieg. Hunderttausende Dokumente sind bereits unter www.europeana1914-1918.eu einzusehen, ein Großteil stammt aus Bibliotheken und Archiven, zehntausende stammen aus Privatbesitz. So gut wie alle Fotos, Filme und Dokumente sind lizenzfrei weiterverwertbar. Angefangen hat alles 2008 in Großbritannien, als die Universität Oxford mit dem "Great War Archive" Bürger dazu aufrief, ihre privaten Sammlungen aus dem Ersten Weltkrieg digitalisieren zu lassen und auch bei der Auswertung, zum Beispiel welche Orte und Personen auf Fotos zu sehen waren, mitzuhelfen. Crowdsourcing für Historiker. Drei Jahre später beschlossen dann die Staatsbibliothek zu Berlin und die Bibliothèque Nationale de Paris ein gemeinsames, größeres Projekt zu starten.

Inzwischen sind 20 Länder mit dabei, in zwölf von ihnen wurden bereits Aktionstage durchgeführt, an die 90.000 private Objekte stehen bereits online zur Verfügung. "Die 100.000-Marke knacken wir noch in diesen Tagen", ist Frank Drauschke überzeugt. Er ist verantwortlich für die Aktionstage in Deutschland und hat auch schon Objekte aus der eigenen Familie für das Projekt eingestellt. Historiker geworden, so sagt Drauschke, sei er nämlich erst wegen der persönlichen Verbindung zum Ersten Weltkrieg. Als Kind spielte er mit dem Schildkrötenpanzer, den der Großvater aus dem Krieg mitgebracht hatte, und war fasziniert von einem "Ich will das loswerden"

Schildkrötenpanzer von Frank Drauschkes Großvater (Foto: Frank Drauschke)
Schildkrötenpanzer von Frank Drauschkes GroßvaterBild: Frank Drauschke

"Die Einzelpostkarte wird die Historiographie nicht verändern", meint Drauschke, "aber die Möglichkeit am heimischen PC zu sitzen und Tagebücher aus Frankreich, Deutschland, Dänemark und Zypern zu vergleichen, das kann neue Impulse geben. Das ist der Rohdiamant, der dann von der Forschung geschliffen werden muss." Aber auch für Nicht-Historiker ermöglicht es das digitale Archiv, die Briefe der einstigen Gegner zu lesen, vielleicht zu erkennen, dass das Heimweh, das Leid bei allen Beteiligten groß, aber auch die Feindbilder auf Propagandapostkarten ähnlich verbreitet wurden.

b#Auch an diesem Tag in der Berliner Staatsbibliothek werden Zeugnisse der Propaganda sichtbar. Gleich am Tisch neben Christine Sörje zeigt Heinrich Reitz ein großformatiges Album seines Urgroßvaters. Die grauen Seiten sind beklebt mit bunten Seidenbändern. Darauf heroische Sprüche und Kaiser-Zitate wie dieses: "… und wenn die Welt voll Teufel ist und gegen uns in Waffen steht. Wir wollen mit ihr schon fertig werden." Es sind so genannte Vivat-Bänder. Nach jeder neuen Schlacht wurden diese in Deutschland von teils berühmten Künstlern gestaltet und zugunsten des Roten Kreuzes verkauft. "Wollen Sie das haben?", fragt Reitz. "Ich will das loswerden!" Und ja, die Staatsbibliothek möchte das Album haben, es stellt sich als einzigartig heraus, alle Vivat-Bänder, die je gefertigt wurden, sind hier gesammelt. Das gab es bisher nicht beim Europeana-Projekt und auch nicht in einer Bibliothek.

Christine Sörje aber möchte die Dokumente der Erinnerung ihrer Familie nicht loswerden. Sie wird sie nach dem Scann-Vorgang wieder mit nach Hause nehmen. "Das ist sehr emotional", sagt sie. "Es bringt mich näher an die Großeltern, mit allen Höhen und Tiefen, und es stellt mich in die Verantwortlichkeit. Ich möchte sehr wach und bewusst in dem Heute leben und dazu gehört das Wissen um die Vergangenheit."