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PolitikEuropa

Großer Sprung nach vorn für Europa

Barbara Wesel
16. September 2020

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sieht die Corona-Krise als Chance zur Veränderung in Europa: Sie will die Klimaziele verschärfen, soziale Sicherungen verbessern und eine entschiedenere Außenpolitik betreiben.

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Ursula von der Leyen's Rede zur Lage der EU
Bild: AFP/O. Hoslet

Der große Saal im Europaparlament war nur schütter gefüllt - aber das liegt an Corona. Deswegen entfiel auch die turnusmäßige Fahrt nach Straßburg und Ursula von der Leyen hielt ihre Grundsatzrede zur Lage der Union in Brüssel. Die EU-Kommissionschefin hielt eine lange und kämpferische Rede. Sie ließ kein Thema und keine Herausforderung aus, zeigte enormen Ehrgeiz und will die Krise durch die Pandemie als Antrieb für umfassende Veränderungen in Europa nutzen. 

Gesundheit

"Wir haben in der Krise eine Menge geschafft, ohne die Zuständigkeiten zu haben", lobte von der Leyen die Reaktion ihrer Kommission auf die Herausforderungen der Pandemie. Der Start war nach allgemeinem Urteil schwierig, weil Gesundheitspolitik zur Kompetenz der Mitgliedsländer gehört und zunächst nationaler Eigennutz regierte. Dann entdeckte Brüssel aber die Chance auf Koordination und Planung der Verteilung von medizinischem Material. Auch die Entwicklung und künftige Verteilung von Impfstoffen setzte sie auf ihren Plan.

UK Uni Oxford meldet Durchbruch bei Corona-Impfstoff
Die Europäische Union will sich bei der Entwicklung eines Corona-Impfstoffs mehr einbringenBild: picture-alliance/AP Photo/J. Cairns

Jetzt zieht die Präsidentin die Konsequenz: "Wir brauchen eine stärkere europäische Gesundheitsunion". Sie will die Europäische Arzneimittel-Agentur in Amsterdam stärken, ein Zentrum zur Seuchenkontrolle sowie ein EU-Zentrum für Biomedizin gründen, strategische Vorräte anlegen und im nächsten Jahr unter italienischem G-20-Vorsitz eine Welt-Gesundheitskonferenz veranstalten. Und vor allem: Sie will künftig mehr Kompetenzen für Gesundheit bei der Kommission ansiedeln.

Wiederaufbau-Programm

Die Antwort der EU auf die Wirtschaftskrise durch Corona ist das 750-Milliarden-Paket im Wiederaufbau-Programm, das im Juli beschlossen wurde. Von der Leyen macht sich dabei besonders für Zukunftsinvestitionen stark: 30 Prozent der Gelder sollen für grüne Projekte ausgegeben werden, 20 Prozent in die Digitalwirtschaft fließen. "Wir müssen in Leuchtturmprojekte investieren", fordert sie und nennt als Beispiele Ladestationen für Elektroautos oder eine neue nachhaltige Bauwirtschaft. 

Im Kampf gegen soziale Ungleichheit und Armut in der EU will die Kommissionschefin einen Mindestlohn in allen Mitgliedsländern vorantreiben und den Rechtsrahmen dafür schaffen, wobei sie sie auf abgestufte tarifliche Vereinbarungen setzt.

Ursula von der Leyen's Rede zur Lage der EU
Ursula von der Leyen bei der Rede zur Lage der EUBild: AFP/J. Thys

Digitale Wirtschaft

Um die EU zukunftsfähig zu machen singt Ursula von der Leyen das hohe Lied der Digitalen Wirtschaft. Die Corona-Epidemie habe auch die Schwächen Europas bei der digitalen Versorgung aller Bürger gezeigt, sagt die EU-Kommissionschefin. Wenn zu Hause gearbeitet, gelernt und kommuniziert werde, müsse die digitale Infrastruktur europaweit verbessert werden. Außerdem will die EU 8 Milliarden Euro in die Entwicklung von Super-Computern investieren und eine europäische "Cloud" schaffen.

Gleichzeitig mahnt von der Leyen, dass die EU die Kontrolle über ihre Daten behalten und die künftigen Standards setzen müsse, etwa bei der Entwicklung und dem Einsatz künstlicher Intelligenz. "KI öffnet neue Welten, aber sie müssen kontrolliert werden". Die Kommissionschefin mahnt dabei gleichzeitig, die digitale Souveränität Europas zu wahren und plädiert gegen die Übernahme durch Staatsfirmen - ein Seitenhieb gegen Chinas Huawei.

Klimaziele

Die spektakulärste Forderung von der Leyens betrifft die Verschärfung des EU-Klimaziels bis 2030: Sie will die Treibhausgase in den nächsten zehn Jahren um 55 Prozent verringern. Ursprünglich waren 40 Prozent geplant: "Von evakuierten Wohngebieten über den Gletscher-Kollaps am Mont Blanc bis hin zu Bränden in Oregon und Missernten in Rumänien", überall sei die Folgen des Klimawandels zu spüren. Sie versprach auch, die Schulden für den Wiederaufbau-Fonds zu 30 Prozent aus grünen Anleihen aufzunehmen.

Die Folgenabschätzung der Kommission habe gezeigt, dass die Wirtschaft in Europa imstande sei, dieses Ziel zu erreichen. Hier ließ die Kritik nicht auf sich warten: Die Gruppe der Identitären im Parlament behauptete, durch die selbst gesetzten Klimaziele werde die Europäische Wirtschaft weniger wettbewerbsfähig. Der polnische Abgeordnete Ryszard Legutko von den Rechtskonservativen der "PiS" nannte den Green Deal sogar "eine kostspielige Extravaganz".

Alice Kuhnke von den Grünen wiederum behauptet das Gegenteil: "55 Prozent gehen nicht weit genug. Nicht genug für die Grünen und nicht genug für den Planeten. Wir wissen, dass die Wissenschaftler mindestens 65 Prozent fordern. Ich glaube, die Kommissionspräsidentin ist in einem Dilemma: Sie weiß, dass die Grünen Recht haben, aber sie kann ihre eigenen Konservativen und den Rat der Regierungen nicht an Bord bekommen".

Der große Rest 

Nach mitfühlenden Worten für die Lage der Menschen im Flüchtingslager Moria versprach die Kommissionspräsidentin Abhilfe durch den Vorschlag, den sie in der kommenden Woche für eine Reform des Asylrechts vorlegen will. Aber auch da ist sie ganz in der Hand der Mitgliedsländer: Spielen die wie bisher nicht mit, bleiben die Ideen Makulatur.

Griechenland Nach Brand im Flüchtlingslager Moria
Abgebranntes Lager in MoriaBild: Reuters/A. Konstantinidis

Das gleiche gilt für eine entschiedene Außenpolitik mit schärferen Sanktionen etwa gegen Russland: Solange es den Beschluss noch nicht gibt, in diesen Fragen künftig nicht mehr einstimmig, sondern mit Mehrheit abzustimmen, wird sich nichts ändern. Mit dieser Frage steht und fällt auch künftig eine klarere Außenpolitik gegenüber Menschenrechtsverletzungen oder gar ein europäischer Magnitsky Akt, wie ihn in von der Leyen fordert. 

Viel Beifall erhielt Ursula von der Leyen dann für ihren Satz: "LGBTQI-freie Zonen sind Zonen ohne Humanität, sie haben in unserer Union nichts zu suchen". Das trifft auf den Widerstand vor allem von Polen und Ungarn. Das galt auch für die Ankündigung der Präsidentin, wie wolle noch in diesem Monat den ersten Bericht über den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in der EU vorlegen. Und die   Bindung an die Rechtsstaatlichkeit bei der Verteilung der Mittel sei für sie unabdingbar. Da hat sie die Unterstützung einer großen Mehrheit im Parlament, aber einige fühlen sich angegriffen und sprechen von "ideologischer Politik" in der Kommission.

Und schließlich gab es noch eine Mahnung nach Großbritannien angesichts der jüngsten Versuche, das Nordirland-Protokoll per Gesetz zu ändern: Das Austrittsabkommen "kann nicht einseitig verändert, missachtet oder neu interpretiert werden. Das ist eine Frage von Recht, gutem Glauben und Vertrauen". Und Ursula von der Leyen fügte hinzu, dass die Chancen für ein Handelsabkommen von Tag zu Tag geringer würden.

Ein Art Generalkritik an diesem Rundumschlag der Kommmissionspräsidentin kommt von den Ökonomen des Brüsseler Bruegel Instituts. Guntram Wolf lobt zwar den Ehrgeiz der Kommissionspräsidentin etwa beim Klimaschutz. Aber sie habe zu viele allgemeine Ankündigungen gebracht und nicht genug konkrete Vorschläge. Was der komplizierten politischen Lage von der Leyens geschuldet ist: Sie bemüht sich alle wichtigen Themen aufzugreifen, allen demokratischen Flügeln im Parlament etwas zu bieten, aber nach einem Dreivierteljahr im Amt weiß auch die Präsidentin, dass ihre Vorgänger in der Regel nicht an ihrer Behörde, sondern am Zank im Europäischen Rat gescheitert sind.