Großbritannien wählt erneut den Brexit
13. Dezember 2019Um kurz nach sechs Uhr MEZ war es nach einer langen Wahlnacht soweit. Die konservative Partei überschritt nach Auszählungen in den meisten der 650 Wahlkreise die Schwelle von 326 Mandaten. Das ist die magische Linie der absoluten Mehrheit im britischen Unterhaus. Premierminister Boris Johnson kann bis zum Ende der Auszählung in den nächsten Stunden mit rund 360 Sitzen rechnen. Diese bequeme Mehrheit ist die größte, die die konservative Partei seit den Zeiten der fast schon legendären Parteiführerin Margaret Thatcher vor 32 Jahren erreicht hat. Die Analysten in den britischen Fernsehsendern sprechen von Erdrutsch und Erdbeben, um diesen unerwartet hohen Wahlsieg zu beschreiben.
Triumph für Johnson
Der sehr erleichtert wirkende Boris Johnson trat bereits um kurz vor fünf Uhr MEZ auf die Bühne des Auszählungszentrums in seinem eigenen Wahlkreis Uxbridge in London. Dort hörte er zusammen mit allen Mitbewerbern, zu denen auch Kandidaten der Splitterparteien namens Lord Buckethead und Elmo gehören, das Ergebnis des Auszählungskomitees. Er erreichte 25351 Stimmen und damit einen Vorsprung von 7000 Stimmen vor dem Kandidaten der Labour-Partei. Wahlforscher hatten in der vergangenen Woche noch spekuliert, Johnson könne seinen eigenen Sitz verlieren. Nun kann der Premierminister, der diese vorgezogenen Wahlen herbeigeführt hat, triumphieren. "Es sieht so aus, als hätten wir ein machtvolles Mandat erhalten, um den Brexit durchzuziehen", sagte der konservative Parteiführer in seiner kurzen Ansprache. Es sei nicht nur ein Auftrag für den Brexit, sondern auch ein Auftrag, das Land wieder zu einen. Johnson sprach von einer neuen "Eine-Nation-Regierung", die er nun anführen will.
Labour geschlagen
Im Wahlkampf hatte Boris Johnson, der bislang alle Abstimmungen im Unterhaus zur Umsetzung des Brexit verloren hatte, weil er ohne eigene Mehrheit war, dieses eine Versprechen den Wählern eingehämmert: Lasst uns den Brexit machen! Den Kurs der Opposition, den Ausstieg aus der EU ganz abzusagen oder erneut zu verschieben und ein zweites Brexit-Referendum abzuhalten, lehnten die britischen Wähler offenbar ab. Für die Labour-Partei war es das schlechteste Wahlergebnis seit Jahrzehnten. Sie kommt auf rund 200 Mandate im neuen Unterhaus. Labour-Chef Jeremy Corbyn zog am frühen Morgen in seinem Wahlkreis Islington in London erste Konsequenzen. Er werde die Partei nicht mehr in die nächste Wahl in vier Jahren führen, sagte er. Einen sofortigen Rücktritt, den viele enttäuschte Parteimitglieder bereits fordern, kündigte er allerdings noch nicht an. Verluste hatten die Sozialdemokraten vor allem in Wahlkreisen in der Mitte und im Norden Englands zu verzeichnen. Dort hatten sich die Menschen beim Referendum 2016 für den Brexit ausgesprochen, den Corbyn in seiner jetzigen Form nicht umsetzen wollte.
Brexit Ende Januar wahrscheinlich
Wahlsieger Boris Johnson sagte in seinem Wahlkreis Uxbridge, diese Wahl sei wahrlich "historisch" gewesen. "Das gibt uns die Chance jetzt den Willen des Volkes wirklich umzusetzen." Er wolle nun keine Zeit verlieren. Bereits in der nächsten Woche soll der mit der EU ausgehandelte Austrittsvertrag erneut ins Parlament eingebracht werden. Im Wahlkampf hatte Johnson versprochen, dass beim Weihnachtsessen Klarheit über den Brexit-Kurs herrschen sollte. Jetzt ist es höchst wahrscheinlich, dass Großbritannien am 31. Januar 2020 aus der Europäischen Union ausscheidet. Drei Mal war der Austritt bereits verschoben worden, weil es nicht möglich war, im Parlament ein Austrittsabkommen zu billigen. Einen "harten" Brexit ohne Vertrag hatte das alte Parlament, in dem es keine klaren Mehrheiten gab, ebenfalls mehrfach abgelehnt. Jetzt habe Boris Johnson freie Bahn, um durchzusetzen, was er wolle, meinte ein Analyst in der BBC am Morgen.
In der Wahlnacht versprach Johnson, sich nach dem Brexit auf die "wirklichen Prioritäten der Menschen" konzentrieren zu wollen. Er nannte das staatliche Gesundheitswesen NHS. 50.000 neue Krankenpfleger sollten eingestellt und neue Krankenhäuser sollten gebaut werden. Eines davon in seinem eigenen Wahlkreis Uxbridge.
EU ist bereit
Nach dem formalen Austritt aus der EU will Premier Johnson in der dann laufenden Übergangsfrist von elf Monaten ein umfassendes Handelsabkommen mit den Europäern aushandeln. Parallel dazu will er auch mit anderen Weltregionen neue Handelsregeln vereinbaren. Der amerikanische Präsident Donald Trump hatte seinem Seelenverwandten Johnson Unterstützung und spezielle Konditionen zugesichert. "Wir werden einen Deal machen, der besser ist als alles, was die EU anbieten kann. Feiere Boris!" - schrieb Donald Trump am Morgen auf Twitter. "Die EU ist bereit für die nächsten Schritte", sagte der Vorsitzende des Europäischen Rates, Charles Michel, in Brüssel noch in der Nacht. An diesem Freitag will der laufende Gipfel der 27 Staats- und Regierungschefs ein "starkes Signal" zum Brexit senden, kündigte Michel an.
Nach dem britischen Mehrheitswahlsystem erhält der Kandidat mit der höchsten Stimmenzahl das Mandat. In vielen Wahlkreisen hätten die Bewerber der oppositionellen Sozialdemokraten und der Liberaldemokraten zusammen genommen eine Mehrheit. Da die Parteien aber nicht auf eigene Kandidaten verzichtet haben, reichte den konservativen Bewerbern oft ein Stimmenanteil von etwas mehr als einem Drittel, um den Sieg davon zu tragen. Die "Brexit-Partei" des Europaabgeordneten Nigel Farage konnte kein Mandat gewinnen. Viele Brexit-Anhänger wählten lieber die Konservativen, um eine Mehrheit im Unterhaus sicherzustellen. Farage sagte in der Nacht, das Land werde jetzt wahrscheinlich jahrelang über Handelsabkommen mit der EU verhandeln. Er hatte sich für einen Austritt ohne Abkommen, die harte Variante des Brexit, ausgesprochen.
Schottland stimmt gegen Brexit
Völlig aus dem Trend fiel in dieser Wahlnacht der nördliche Teil Großbritanniens. In Schottland siegte die schottische Nationalpartei (SNP) erdrutschartig. Sie räumte mit 48 die große Mehrheit der 59 zu vergebenen Sitze ab. Die SNP tritt für einen Verbleib Schottlands in der Europäischen Union ein, auch wenn der Rest des Vereinigten Königreiches Ende Januar nun wahrscheinlich austreten wird. Die Regierungschefin Schottlands, Nicola Sturgeon, leitet aus dem Wahlsieg den Auftrag ab, erneut über die staatliche Unabhängigkeit Schottlands abstimmen zu lassen. 2014 hatten die Schotten die Unabhängigkeit in einem ersten Referendum noch abgelehnt. Ruth Davidson, ehemalige Vorsitzende der SNP, muss voraussichtlich ein spezielles Wahlversprechen doch nicht einlösen. Sie hatte angekündigt, sie würde sich nackt ausziehen und durch den See Loch Ness schwimmen, sollte ihre Partei über 50 Sitze erreichen. Das sagenhafte Ungeheuer Nessie, das in dem Loch leben soll, hätte sich sicher über ihren Besuch gefreut.