Groundhopping - Echte Stadionliebe
13. September 2019Das Spiel hat längst angefangen, da stapft Pedro immer noch unablässig und konzentriert um den Platz. Und zählt. Nach rund zwanzig Minuten kehrt er zur dreistufigen Steintribüne zurück und verkündet das Ergebnis: "139 sind es." So viele Zuschauer sehen das Spiel zwischen der JSK Rodgau und Rot-Weiß Darmstadt. Verbandsliga Hessen, die sechsthöchste deutsche Spielklasse, an einem kalten, grauen Donnerstagabend im September.
Pedro ist Groundhopper - und damit nicht der einzige unter den 139 Zuschauern. Während andere Fußballfans Jahr um Jahr versuchen, ihre Stickersammlung zu komplettieren, sammeln Groundhopper Stadien. Wie auch Jonas Schulte. Er ist zum ersten Mal hier und "kreuzt den Ground". So nennt man es, wenn man ein Stadion von seiner Liste abhaken kann. Das Jahr läuft gut für Schulte, er ist auf Rekordkurs: "Vor zwei Jahren war mein Rekordjahr, mit 153 Spielen. Da werde ich jetzt locker drüber kommen, ich bin gut in Fahrt. Aber man muss sagen: Ich bin damit nur eine kleine Leuchte. Ich kenne Leute, die gehen zu 250, vielleicht sogar 300 Spielen im Jahr!", sagt Schulte.
Ursprung aus England
Die Idee des Groundhoppings stammt aus England. 1974 machte der Brite Geoff Rose einen Vorschlag: Fans, die alle 92 Stadien der ersten vier englischen Profiligen besucht hätten, sollten eine spezielle Krawatte erhalten, die diese Leistung würdigten. Vier Jahre später wurde der "92 Club" gegründet.
Inzwischen ist Groundhopping internationaler und beispielsweise auch in den Niederlanden, vor allem aber in Deutschland beliebt. Ein international gültiges "Regelwerk" für die Sammelart gibt es nicht. Einige Groundhopper bleiben nur in ihrem Land, viele andere fahren immer wieder ins Ausland und sammeln "Länderpunkte". Einige beschränken sich auf die obersten Ligen, andere machen da keinen Unterschied. Man sollte zumindest eine Halbzeit bei dem Spiel geblieben sein, bevor man eventuell zum nächsten Ground springt. Auch da gibt es mal strengere, mal weichere Auslegungen. Die Szene ist an sich eher lose organisiert.
Bratwurst-Wertung
Ein charmantes Detail sind die Gewohnheiten, die Groundhopper entwickeln. Der eine zähle Zuschauer, der andere stoppe die Zeit, erklärt Jonas Schulte, während er mit dem Anpffiff des Schiedsrichters seinen Timer aktiviert. Wieder andere bewerten die Bratwürste der Stadien nach Qualität und veröffentlichen ein Ranking im Netz.
Auch wenn viele Groundhopper als Einzelgänger unterwegs sind - bei Spielen trifft man sich immer wieder. Über die App "Groundhopper" kann man sich bei den Partien offiziell einchecken und sehen, welche Hobby-Kollegen noch vor Ort sind. So macht man auch neue Bekanntschaften, tauscht sich aus über die letzten Erlebnisse oder plant Fahrgemeinschaften: "Es gibt zugegebenermaßen auch Spiele, die verquatscht man. Aber mir ist es schon wichtig, auch etwas vom Spiel zu sehen", so Schulte.
Sammeln im In- und Ausland
Aber es geht nicht nur um den Sport. "Insgesamt würde ich sagen, es ist mehr als Fußball. Auch Kultur. Es ist einfach geil, zum ersten Mal in ein Stadion zu kommen und sich dieses Konstrukt anzugucken. So ein Spiel wie heute, okay, das nimmt man mit, weil man irgendwann die Liga komplett haben will", sagt Philipp Kunz, ein weiterer Groundhopper vor Ort, während Rot-Weiß Darmstadt die Partie in Rodgau zunehmend unter Kontrolle bekommt und mit 1:0 in Führung geht.
Kunz ist stets auf der Jagd nach "Länderpunkten". In 36 Ländern hat er mittlerweile schon Fußball geschaut, kommt gerade von einer Balkan-Reise zurück. "Für die Zahl kann ich mir aber jetzt nicht auf die Schulter klopfen", betont Kunz. Schulte sagt, er habe neulich einen Groundhopper getroffen, der 200 Länderpunkte hatte. Zum Vergleich: Die FIFA hat 211 Nationalverbände.
Die Suche nach Besonderem
Für Schulte steht eine Reise in die Slowakei an - natürlich verbunden mit Fußball. Er fokussiert sich nicht darauf, Ligen zu komplettieren, sondern sucht gezielt nach Vereinen mit besonderen Stadien oder Storys: "Die schönste Geschichte war die des SV Willofs, der nach über 20 Jahren seine Mannschaft neu gegründet hat. Das ist ein Dorf mit 400 Einwohnern, die haben eigentlich nicht genug Leute. Sie haben das alte Stadion mit Holztribüne wieder hergerichtet und den Sumpf trocken gelegt, der sich auf dem Platz gebildet hatte. Das ganze Dorf ist total verrückt danach, wieder Fußball zu sehen. Da gehe ich immer wieder mal hin!"
Doch es gibt auch negative Erfahrungen. Groundhopper sind als Einmal-Gäste nicht überall gern gesehen - eingefleischte Fangruppen bitten sie gerne einmal zur Kasse. "Da heißt es dann, entweder wir boxen dich aus dem Stadion raus, oder du gibst zehn Euro in die Choreografie-Kasse", sagt Schulte. Dann sollte man sich unauffällig verhalten, wenig fotografieren.
Das Hobby im Alltag
Viele Groundhopper planen ihre Woche nach den Spielen. Für das Umfeld oft nicht einfach: "Verständnis gibt es da wenig, Akzeptanz ist, glaube ich, das richtigere Wort", so Kunz. Hobbykollege Schulte nimmt seine Partnerin öfters mit ins Stadion. Es lasse sich eigentlich ganz gut mit dem Alltag kombinieren, sagt der Radio-Redakteur.
Aber klar ist auch: Die Wochenenden sind meist verplant, unter der Woche ist der Feierabend selten mit Couch und Fernseher belegt, sondern oft mit Steinstufen und unterklassiger Fußballromantik. Auch eine Art Statement gegen die Kommerzialisierung des Fußballs.
Sechstligisten vs. Superclasico
Und während Rot-Weiß Darmstadt an diesem Abend in der sechsten Liga nichts anbrennen lässt und einen 3:0-Sieg beim JSK Rodgau eintütet, gibt es auch für Groundhopper die großen Highlights und Träume.
Für Kunz ergibt sich bald die Gelegenheit, sich einen langen Traum zu erfüllen: "Ich fliege im Oktober nach Argentinien, da ist der Superclasico [Partien zwischen Boca Juniors und River Plate - Anm. d. Red.] angesetzt. Wenn wir da Karten bekommen, das wäre natürlich das Ding. Geiler geht nicht mehr!"