Griechenland: Countdown zum Absturz
15. Juni 2015Die ernste Botschaft kommt vom Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi: Die Dramatik der griechischen Situation bedeute nicht, dass die anderen dafür verantwortlich seien. Er wies auch darauf hin, dass die Liquiditätshilfe für griechische Banken derzeit schon 118 Milliarden Euro beträgt, das seien 66 Prozent des griechischen Nationalproduktes. Nach wie vor halte die EZB griechische Banken für solvent und die Sicherheiten für ausreichend, um sie weiter mit Geld zu versorgen. Allerdings entwickele sich die Lage ständig weiter, und man müsse die Gesundheit des Bankensystems in Griechenland beobachten. Ein Hinweis darauf, dass sich im Fall einer Staatspleite am Monatsende die Situation blitzschnell ändern könnte. "Wir brauchen eine belastbare und umfassende Einigung mit Griechenland", betont Draghi. Dreht er den Geldhahn zu, ist Athen am Ende.
Auch der französische Präsident Francois Hollande mahnt: Man müsse schnell wieder miteinander verhandeln, denn jetzt würden die Fristen für Griechenland extrem kurz. Ähnliches war aus Berlin zu hören. Nur der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras selbst scheint alle Zeit der Welt zu haben und erklärt einer griechischen Zeitung, man werde geduldig warten, bis die sogenannten Institutionen auf eine "realistischere Position" einschwenkten. Mit den "Institutionen" sind EU, EZB und Internationaler Währungsfonds gemeint.
Zeit der Schuldzuweisungen beginnt
In Brüssel dagegen hält die EU-Kommission die Position der Gläubiger bereits für ausgesprochen realistisch: Man sei der griechischen Seite weit entgegengekommen, zum Beispiel beim Primärüberschuss. Das ist die Summe, die im Staatshaushalt vor dem Abzug des Schuldendienstes übrig bleiben müsse. Da vermeldet Sprecherin Annika Breidthardt auch die bislang einzige Bewegung im Streit mit Athen: Die griechische Regierung akzeptiere inzwischen den zuletzt geforderten Überschuss von einem Prozent in diesem Jahr. Offen sei dabei allerdings, wie Athen dieses Ziel erreichen wolle. Es seien "einfach Zahlen aus dem Hut gezaubert" worden.
Und dann geht die Kommission in die Vorwärtsverteidigung: Es kursierten zu viele falsche Berichte darüber, was die Gläubiger tatsächlich von Griechenland verlangten. So sei es nicht wahr, sagt die Sprecherin, dass unbedingt Kürzungen bei Löhnen und Renten gefordert würden. Stattdessen gehe es um Strukturreformen im Rentensystem, etwa durch Abschaffung der Frühverrentung und das Zusammenführen von Zahlungen. Die Renten seien der teuerste Teil der Staatsausgaben, sie müssten tragbarer gemacht werden. Ähnliches gelte für Reformen bei der Besoldung im öffentlichen Dienst sowie bei der Mehrwertsteuerreform.
Weitere Verhandlungen nur über neues Angebot
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sei sehr enttäuscht über das Scheitern der Gespräche, sagte sein Sprecher Margaritas Schinas. Aber: "Wir sind gern bereit, als Vermittler unseren Teil zu den Verhandlungen beizutragen, wenn es etwas Neues gibt". Dabei liegt die Betonung hier auf "etwas Neues". Nachdem am Wochenende einmal mehr ein griechisches Verhandlungsteam ohne konkretes Angebot nach Brüssel gekommen ist, schrumpft jetzt die Gesprächsbasis. Da können die Gläubiger noch so oft wiederholen: "Der Ball liegt im griechischen Feld."
Letzte Gesprächsrunde krachend gescheitert
Am Samstagnachmittag war eine griechische Delegation, bestehend aus Verhandlungsleiter Euclid Tsakalotos und zwei engen Vertrauten von Premier Tsipras, in Brüssel mit einem Vertreter des EU-Kommissionspräsidenten zusammen getroffen. Das Gespräch sollte endlich den Durchbruch bringen. Nach erneuter stundenlanger Seelenmassage in der vorigen Woche durch Angela Merkel, Francois Hollande und Jean-Claude Juncker wollte Tsipras einen Vorschlag vorlegen, der die Kluft zwischen Schuldnern und Gläubigern überbrücken könne. Aber das Angebot aus Athen traf nicht ein. Nicht am Donnerstag, und nicht am Freitag.
Weil auch am Samstag Tsakalotos und seine Kollegen kein Papier mit Vorschlägen dabei hatten, trennte man sich schnell wieder. Am späten Abend gab es dann eine weitere Runde, zu der die Griechen ein sogenanntes Non-Paper mitbrachten. Auf einer Seite war da lapidar aufgeschrieben, was Athen will: Beim Haushaltsüberschuss zeigt die Regierung Kompromissbereitschaft, Reform- und Kürzungsforderungen aber werden weiter abgelehnt. Stattdessen verlangen die Griechen einen weiteren Schuldenschnitt sowie ein Investitionspaket für ihre Wirtschaft. Auf der Basis konnte man nicht zusammen kommen. Die Gläubiger beziffern die strittige Differenz im griechischen Haushalt mit rund zwei Milliarden Euro.
Leben auf einem anderen Stern?
Am Sonntagmorgen dann saßen die Verhandlungsführer der Gläubiger ab 8.00 Uhr früh wieder in ihren Büros in der Hoffnung auf ein neues Angebot. Die griechische Delegation dagegen wurde beim gemütlichen Frühstück am schönen Brüsseler Place Sablon gesichtet. Erst am späten Nachmittag kam es zu einer weiteren Sitzung. Die wurde dann kurz: Innerhalb von 45 Minuten war klar, dass es keine Vereinbarung geben könne. "Die sind auf einem anderen Stern", erklären EU Diplomaten zu dem für Außenstehende unbegreiflichen Verhalten der Griechen. Jetzt ist klar, dass die Gläubiger in unbekannte Gewässer kommen.
Die Zeit wird knapp: Schon heute ist ein Kompromiss bis zum Treffen der Euro-Finanzminister am Donnerstag technisch kaum noch möglich. Und hört man auf die Signale aus Athen, will die griechische Regierung ihn auch gar nicht. Dafür spricht wohl auch das jüngste Interview von Finanzminister Yannis Varoufakis in der "Bild"-Zeitung: Er fordert eine Art außerordentliches Rettungsangebot von Angela Merkel persönlich. Die Griechen wollen offenbar ihren Gläubigern weitere Zugeständnisse auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs abringen.
Ein solches Treffen könnte spätestens noch am kommenden Wochenende als Sondergipfel der Euroländer in Brüssel stattfinden. Denn noch vor Monatsende müssten die Parlamente mehrerer Mitgliedsländer, darunter der Deutsche Bundestag, eine Einigung oder eine neue Verlängerung des Hilfsprogramms absegnen. Dieses Programm aber läuft am 30. Juni aus. Und dann verfallen die 7,2 Milliarden Euro, um deren Auszahlung so erbittert gestritten wird. Am gleichen Tag muss Griechenland 1,6 Milliarden Euro Schulden beim IWF begleichen. Kann oder will Athen dann nicht zahlen, rückt die Staatspleite nahe.
Die griechische Regierung scheint nach wie vor damit zu rechnen, dass man das Land unbedingt im Euro halten wolle. Allerdings steht die Eurogruppe nicht unter deutschem Diktat: Mitglieder wie Finnland, die Niederlande oder die Slowakei zeigen sich seit langem genervt von der griechischen Taktik. Außerdem müssten auch dort die Parlamente noch gefragt werden, und ihr Ja ist nicht in jedem Fall garantiert.